Nachdem ich erreicht habe, was ich erreichen wollte, stellte ich sicher, dass mich niemand beobachtet hatte und betrat wieder das Gebäude. Bevor ich mich in den Gang schlich, klopfte ich den Schnee von meinen Boots ab, denn die Schneespur im Flur könnte auffallen. Mir war es nämlich eigentlich nicht gestattet, das Gebäude ohne Erlaubnis zu verlassen.
Ich erinnerte mich an das Angebot von Avery und machte mich auf den Weg in ihr Zimmer. Andauernd liefen irgendwelche Schwestern an ihrem Zimmer vorbei und lauschten, wenn Josh da drinnen war. Sie wollten uns scheinbar nicht glauben, dass der Junge ganz friedlich sein kann, wenn man ihn nicht provoziert.
Es lauschte gerade wieder eine neugierige Schwester an der Tür, die vergeblich versuchte, durch das Schlüsselloch zu schauen. Durch ihre volle Konzentration auf das Loch, bemerkte sie meine Anwesenheit gar nicht. Ich räusperte mich und die Schwester zuckte – wie vom Blitz getroffen – zusammen. Ich musste mir das Lachen echt verkneifen, da ihr erschrockenes und peinlich berührtes Gesicht einfach unfassbar lustig aussah. Sie trat beschämt zurück und lief mit einem schnellen Schritt zur Treppe.
In Averys Zimmer war es still. Wahrscheinlich saßen sie und Josh auf dem Bett, waren am Handy oder hatten sich einfach nur nichts zu sagen. Vielleicht waren sie ja auch tot.
Ich drückte die kühle Klinke hinunter, um in ihren Raum zu gelangen. Wie bereits gedacht, saßen beide auf dem Bett und waren am Handy. Leider war Josh doch nicht tot. »Hey, Baby«, sagte er gespielt und zwinkerte mir zu. Er liebte es, sich über Noah lustig zu machen. »Na, Honey?«, erwiderte ich und pustete ihm einen Luftkuss herüber. »Ihr habt sie doch nicht mehr alle«, sagte Avery und fing laut an zu lachen. »Liegt dran, was du meinst. Eltern? Stimmt. Ethan hat nur noch seine Mutter.« Mit einem triumphierenden Blick starrte Josh mich an. »Ich würg dich gleich, Schätzchen.«
»Setz dich zu uns«, sagte Avery auffordernd und deutete mit ihrem Finger auf eine freie Stelle auf ihrem Bett. »Wo warst du?«, fragte sie mit einem warmen Lächeln auf den Lippen, wobei mir diese Frage überhaupt nicht gefiel. Ich blieb stehen und lächelte sie stumm an, da ich zu irgendwelchen guten Ausreden gerade nicht fähig war.
»Was ist los?«, fragte sie und runzelte die Stirn. Das schwache Herz in meiner Brust fing nun stärker an zu klopfen und ich schweifte mit dem Blick durch ihr Zimmer. »Ich war auf der Toilette.« Wow, Ethan. Die beste Ausrede, die du dir hättest ausdenken können. »Oh, äh-... Ach so.«
Ich presste die Lippen aufeinander und fuhr mir durch die Haare. Das Bett quietschte laut, als ich mich darauf setzte. »Fress mal nicht so viel«, sagte Josh, der den Blick von seinem Handy nicht abwandte. Daraufhin rollte ich bloß mit den Augen. Ich nutzte den kurzen Moment der Stille, um über meine Verwandlung nachzudenken. Ich dachte bereits viel nach, allerdings tat ich dies noch mehr, seitdem ich von der Wahrheit über meine Krankheit wusste.
Ich wusste nicht einmal, wieso ich diese Krankheit besaß. Soweit ich weiß, wurde ich noch nie von einem Wolf gebissen. Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, war der Biss eines Hundes vor einigen Jahren. Vielleicht hatte er mich mit dieser Krankheit infiziert.
»Ethan? Was hat Olivia eigentlich mit dir gemacht? Du bist so still. Ist irgendwas?« Ob etwas ist? Bis auf die Tatsache, dass ich den Mond anheule und mich manchmal in eine allesfressende Bestie verwandle, ist alles normal.
Ich starrte bloß weiter auf den Boden und war wie geistesabwesend. Avery stocherte ungeduldig mit dem Finger auf meiner Schulter herum. »Sag schon«, flüsterte sie. »Was ist geschehen?« Ihre giftgrünen Augen fixierten mich und ließen mir keine Ruhe. Sag es ihr. Es war, als würde sich eine weitere Stimme in meine Gedanken einmischen. Aber vielleicht war es auch nur pure Einbildung.
»Na gut.« Ich atmete tief durch. Ich wusste nicht, wie sie reagieren würden, aber sie hatten ein Recht darauf, es zu wissen. »Ich sage es euch.« Josh blickte verwundert von seinem Handy auf. Es schien, als würde selbst Josh an meiner Diagnose interessiert sein. Ihre Blicke ruhten auf mir und ich suchte hektisch nach Worten, um es ihnen beizubringen. »Habt ihr gesehen, was mit mir passiert ist, als ich den kleinen Jungen verprügelt habe?« Avery schüttelte den Kopf. »Nein. Es standen zu viele Kinder um dich herum. Was ist denn passiert?« Es war doch klar, dass sie mich nicht gesehen hatten. Sie hätten wahrscheinlich ständig mit mir darüber geredet und hätten mir keine Ruhe vor ihren löchernden Fragen gegeben. »Ich weiß es selber nicht so genau.« Avery kniff die Augenbrauen zusammen und Josh legte sein Handy auf das Bett. Anscheinend war er wirklich daran interessiert, was ich gleich zu sagen hätte.
»Ich habe Lykanthropie.« Der Blick des Dunkelhaarigen wurde bloß noch verwirrter. Scheinbar wusste er nicht, was das für eine Krankheit war. »Werwölfe?« Der Schock in Averys Stimme war klar herauszuhören. »Ja. Werwölfe«, erwiderte ich und leckte mir über die Lippen.
»Das ist 'n Scherz, oder?«, fragte Josh und fing langsam an zu grinsen. »Wer glaubt denn an den Scheiß?« Sein Grinsen wurde noch breiter und er tickte sich auf die Stirn. Dann wanderte seine Hand wieder zu seinem Handy und er entsperrte seinen Bildschirm. Er hatte wohl damit gerechnet, dass Avery und ich jetzt laut loslachen, aber dies passierte nicht. Avery hatte den Kopf auf ihre Hände gestemmt und blickte wortlos an mir vorbei. Ich knetete währenddessen ungeduldig meine Hände und blickte Josh ernst an.
»Warte mal. Du meinst das ernst?« Ich blickte direkt in sein entsetztes Gesicht. »Ja. Es ist so«, erwiderte ich und ließ dann wieder nachdenklich meinen Blick durch den Raum schweifen. Wie von der Tarantel gestochen klappte er die Decke um und verließ das Bett. In sicherer Entfernung von mir, blieb er stehen und schaute mich verängstigt an. »Du bist ein Freak? Du Bastard, Alter. Komm erst wieder, wenn du wieder normal bist.« Mit einem lauten Knall ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen und ging mit einem energischen Schritt auf sein Zimmer.
»Er beruhigt sich wieder«, sagte Avery mit Zuversicht und lehnte ihren Kopf an mir an. Ich denke, sie war über die Reaktion des Alkoholikers genauso erschrocken wie ich. Man konnte seine Gefühle in diesem Moment nicht richtig deuten. Angst, Schock, Frustration und Unwissenheit. Das waren eventuell Gefühle, die in diesem Moment durch seinen Kopf strömten. Ich denke, sein Gehirn hat schon lange nicht mehr so viel gearbeitet.
»Durch den Entzug ist er manchmal unkontrollierbar. Mach dir nichts draus.« Sie fuhr mit ihrer Fingerspitze über meine Wange. Ich erwiderte dies nicht, sondern stand ebenfalls auf. Ohne ihr einen weiteren Blick zu zuwenden, verließ ich das Zimmer. Es war einfach zu viel für mich.
Grundlegende Meinungen zu meinen Kapiteln, sowie Kritik und Verbesserungsvorschläge sind erwünscht.
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Psychopath
WerewolfWenn sich das Leben in wenigen Minuten von Grund auf ändert, dann fällt es einem schwer, das Ganze zu verarbeiten. Ethan Hodge beging im Alter von 17 Jahren seinen ersten Mord an einer jungen Schülerin, da er sich in einem unkontrollierbaren Zustand...