3. Ben

357 19 0
                                    

Die Zeit an den Tagen in der Woche zog sich lang wie ein Kaugummi unter der Fußsohle. Ich tat das, was ich immer tat: Stand morgens um halb sieben auf, ging zur Schule, erledigte meine Hausaufgaben, lernte, las vor dem Einschlafen und schaltete das Licht um Punkt 23 Uhr aus. Freitag Abend traf ich mich meist mit Ben im Kino und das war schon das Highlight meiner Woche.

Ich mochte die Routine in meinem Leben. Alles war klar geregelt, ich wusste immer, was ich wann zu tun hatte und konnte mich daran halten. Meine schulischen Leitungen waren hervorragend und mein Vater stolz wie Oskar. Ihn so zu sehen machte mich glücklich und das spornte mich nur noch mehr an. Ich hatte einen strengen Zeitplan, der eigentlich gar kein Plan war. Irgendwann hatte ich mir einfach angewöhnt, die Dinge zu einer bestimmten Uhrzeit zu erledigen und war aus Gewohnheit dabei geblieben.

Montag bis Donnerstag ging ich in die Schule und lernte anschließend. Manchmal traf ich mich auch kurz auf einen Kaffee mit Kimberly oder Ben, aber an den meisten Tagen war es das und nicht mehr.

Der Freitag Abend dann gehörte alleine Ben. Meisten trafen wir uns bei ihm, schoben eine DVD in den Player und bestellten uns Essen vom Chinesen. Er war dauernd so ausgelaugt von der Uni und viel zu erschöpft, um noch etwas zu unternehmen. Er half die meisten Wochenenden als Kellner in einem Club aus um sich sein Medizinstudium zu finanzieren und so sahen wir uns teilweise Tage lang kaum. Schließlich hatte er viel um die Ohren und mir und meiner Routine kam das nur gelegen.

Samstag Mittag fuhr ich meinen Vater seit Neustem ins Fitness-Studio und hatte das Vergnügend mich in eine dicke Decke gekuschelt mit einem Buch zu beschäftigen. Sonntag Abend machte ich die Hausaufgaben für die kommende Woche und die restliche Gestaltung meines Wochenendes überließ ich dem Zufall. Und der Zufall hieß meistens Kimberly.

Ich erinnerte mich noch daran, dass ich ein sehr unordentliches Kind war. Damals war meine Mutter noch gesund gewesen und ich hatte meine Freunde. Ich lebte in den Tag hinein und machte mir über nichts Gedanken. Konsequenzen gab es für mich keine. Aber vielleicht war das als Kind auch einfach so. Vielleicht ist das etwas, das sich ändern musste. Etwas, das nichts damit zu tun hatte, dass meine Mutter krank wurde und sich mein Leben von dem einen auf den anderen Tag auf den Kopf stellte. Vielleicht war das einfach der Verlauf des Lebens. Das Schicksal jedermanns.

Diesen Samstag Mittag saß ich wieder in dem Caffee gegenüber des Fitness-Studios und wartete auf Ben. Wir hatten uns das letzte Mal erst gestern Abend gesehen, jedoch standen ihm bald wichtigen Examen bevor und das bedeutete, dass wir uns eine Zeit lang kaum sehen würden. Er wollte die Zeit ohne Stress noch geniessen, hatte er gestern gesagt. Also saß ich nun hier und wartete, während er sich verspätete.

Meinen Kakao hatte ich längst zur Hälfte ausgetrunken, als er durch die Tür gestoßen kam. Wut loderte langsam in mir auf. Er hätte mir wenigstens schreiben können, dass er sich verspäten würde.

"Mann, es tut mir wirklich Leid", stöhnte er völlig außer Atem, ließ sich auf den Platz gegenüber von mir plumpsen und hängte seinen Mantel über die Stuhllehne. "Mein Auto hat den Geist aufgegeben, ich musste es zur Werkstatt bringen!"

Er trug eine braune Anzugshose und ein blaues Hemd, welches ihm ausgezeichnet stand. Seine Haare hatte er mit ein wenig Gel zurück gekämmt, nicht so, dass sie glitschig aussahen, und seine Brille war ihm bis auf die Nasenspitze gerutscht. Ich widerstand dem Drang sie ihm zurück zu schieben und beäugte ihn stattdessen.

"Kein Problem", murmelte ich, weil es doch keinen Sinn hatte. Ja, er hätte mir schreiben können - aber jetzt war er ja da und er hatte einen Grund für sein Zuspät-Kommen.

"Sitzt du schon lange hier?", fragte er mich und sah mich mit seinen braunen Augen entschuldigend an.

"Ach Quatsch", ich lächelte, weil ich nicht wollte, dass er ein schlechtes Gewissen bekam. "Eine halbe Stunde vielleicht oder so."

Er erwiderte mein Lächeln und bestellte sich einen Kaffee. Währenddessen erzählte er mir von dem Motor, der sich heute morgen verabschiedet hatte und von einem scheinbar grausamen Dozenten, der wohl eben erst eine Mail rumgeschickt hatte, in der stand, was für Themen relevant hinsichtlich der Examen war. Und dass sie diese Themen niemals durchgenommen hatte und er sich jetzt alles alleine erarbeiten musste, was doppelten Stress bedeutete. Ich saß ihm die ganze Zeit stillschweigend gegenüber und nickte bestätigend. Mir war nicht nach Reden zu Mute. Ich war noch immer leicht säuerlich, weil er zu spät kam ohne mir Bescheid gesagt zu haben. Aber ich wollte nicht, dass er es bemerkte. Er hatte genug Wirbel um die Ohren.

"Was hälst du davon, wenn wir schick Essen gehen, wenn die Prüfungen vorbei sind?", er lächelte mich scheu an. "Nur wir beide."

"Klar, gerne."

Kimberly konnte Ben noch nie leiden. Sie war der Meinung, dass er ein selbstbezogener Schnösel war, dem alles in den Arsch geschoben wurde. Ihre Worte, nicht meine. Aber ich konnte sehen wie hart er arbeitete. In der Woche mit dem Unizeugs und am Wochenende mit seinem Nebenjob. Er wollte Kinderarzt werden. Welcher selbstbezogene Schnösel wollte schon Kinderarzt werden? Außerdem wollte er mit seiner zukünftigen Frau in ein eigenes Ein-Familien-Haus ziehen und zwei Kinder bekommen. Am liebsten einen Jungen und ein Mädchen. Und so wie es aussah, hatte ich gute Chancen auf dieses Leben Anspruch zu erheben. Wir waren jetzt seit zwei Jahren zusammen und ich sah keinen Grund darin, warum wir das jemals nicht mehr sein sollten. Ich liebte ihn und er mich. Was gab es da mehr zu wissen?

Ich bemerkte gar nicht, wie mein Vater sich uns näherte. Auf jeden Fall stand er plötzlich hinter meinem Rücken und erschreckte mich alleine durch seine plötzliche Anwesenheit fast zu Tode. Im Gegensatz zu Kimberly mochte mein Vater ihn. Der Junge meint es wirklich Ernst mit dir, hatte er nach dem ersten Aufeinandertreffen mit ihm gesagt. Und er scheint eine gute Zukunft vor sich zu haben. Damals war er gerade 19 geworden und fing sein Studium an. Ich war 15 und ihm und seiner Intelligenz sofort verfallen.

[13.11.2016]

Car ParkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt