34. Trauer

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Die nächsten Tage vergingen einfach nicht. Ich ging nicht zur Schule, ich sprach weder mit Kimberly noch mit Ben. Auch Miguel hatte seit meiner Geburtstagsfeier nichts mehr von sich hören lassen.
Die meiste Zeit über saß ich einfach nur in meinem Zimmer und fragte mich, wie es so weit gekommen war. Ich war nicht mehr Ich gewesen. Alles in mir war zum Überkochen gekommen und ich konnte unmöglich die ganze Schuld auf den Alkohol schieben. Er war lediglich dafür verantwortlich, dass ich meine Gefühle nicht einfach wieder hinuntergeschluckt hatte wie ich es sonst tat.

Hätte Ben Zeit für mich gehabt, hätte er meinen Geburtstag nicht vergessen und hätte er mich nicht betrogen, dann wären wir noch zusammen. Und wenn ich mich niemals auf die Ziererei mit Nathalie eingelassen und mich auf ihr Niveau runtergelassen hätte, dann wäre Kimberly vielleicht noch meine Freundin. Ich hätte mich niemals von meinem Vater dazu überreden lassen sollen, das Fitnessstudio zu betreten, hätte niemals Miguels Shirt annehmen und mich mit ihm treffen sollen. Ich hätte ihm den Brief nicht schreiben und er hätte mich nicht küssen dürfen. Auch hätte ich keine fremden Leute zu mir einladen sollen, nur weil Kimberly Bock auf eine gute Party hatte. Die sie im Endeffekt nicht einmal hatte.

Aber all das war Schwachsinn. Letztendlich war es nicht der Alkohol, es war auch weder mein Vater, Kimberly, Ben, Miguel oder Nathalie. Ich war diejenige, die sich zu den Taten verleiten ließ. Ich alleine hatte diesen Brocken zu tragen. Und das spürte ich die Tage mehr als nur genug. Ich triefte schon fast vor Einsamkeit.

Nathalie hatte gewonnen. Meine Beziehung war hinüber, Kimberly nicht mehr meine beste Freundin und mein Vater sauer auf mich, weil er ein absolutes Chaos vorfand als er den Tag nach meiner Party wiederkam. Das Einzige, das sie nicht hatte kommen sehen, war, dass Miguel sehr wohl auf mich stehen konnte. Allerdings wünschte ich mir sogar, dass er es nicht tun würde, denn das hätte mir eine Menge Kummer erspart.

Ich war alleine. Keiner war bei mir. Niemand half mir bei der Unordnung in meinem Kopf.

Nicht einmal mehr aufs Lesen konnte ich mich richtig konzentrieren. Immer wieder driftete ich in meine Gedanken ab. Während meine Augen zwar Zeile für Zeile scannten, kam davon nicht auch nur ein Wort in meinem Gehirn an.

Stattdessen saß ich viel rum, schaute in die Leere oder auf den Fernseher. Und dann kam der Todestag meiner Mutter. Ihr Tod war bei Weitem noch nicht so lange her, dass ich ohne zu Weinen an sie zurückdenken konnte. Ich hatte gedacht, dass ich in den vergangenen Tagen alle meine Tränen aufgebraucht hatte, aber mein Körper schien noch irgendwie welche zu produzieren. Das war alles eine Sache des Angebots und der Nachfrage. Meine Seele sagte meinem Kopf, dass ich traurig war, also sagte der Kopf meinen Tränendrüsen sie müssen unerlässlich weiter Tränen produzieren und umso mehr ich weinte, desto trauriger wurde ich. Es war ein Teufelskreis und ich war nicht fähig ihn zu durchbrechen.

Als ich im Badezimmer stand und mir die Hände wusch, streifte mein Blick immer wieder mein Spiegelbild. Zwar versuchte ich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren aber ich konnte mich nur schwer ablenken. Ich mochte nicht, was ich sah. Aber dieses Mal nicht, weil ich mich noch immer für zu fett hielt, sondern weil ich die Person hinter der Fassade nicht mehr leiden konnte.

Wer war ich geworden, dass ich das Geheimnis einer Freundin weiter erzählte und direkt nachdem mit Ben Schluss war, mich von einem beliebigen Typen ficken ließ? Okay, so weit war es zwar nicht wirklich gekommen und Miguel war auch kein beliebiger Typ. Aber ich kannte ihn kaum. Mag sein, dass er ein netter Kerl war und dass etwas zwischen uns hätte entstehen können, aber in seiner Gegenwart hatte ich mich nie wohl gefühlt.

Ich war nicht mehr die pummlige, schüchterne Samantha, die lieber las als sich mit jemanden nett zu unterhalten. Man sah mir deutlich an, dass ich in den letzten Wochen abgenommen hatte. Ich bildete mir sogar ein, dass mein Gesicht ein wenig schmaler geworden war. Von einer Traumfigur war ich noch immer weit entfernt, aber ich hatte angefangen mich so langsam mit meinem Körper anzufreunden. Dafür hatte ich angefangen meine inneren Werte zu hassen. Ich wollte lieber jemand sein, der sozial aktiv war, Teil einer Gruppe. Jemanden, den Typen gerne daten und endlich wieder Kimberlys beste Freundin. Wahrscheinlich wollte ich auch ein bisschen so wie meine Mutter sein. Aber der Mensch war ich nicht.

Wann hatte das alles angefangen? Eigentlich hatte ich nie ein Problem mit meiner Träumerei gehabt. Ich liebte Geschichten. Erfundene, wahre, traurige, fröhliche. Ganz gleich wie sie waren, ich verschlang sie regelrecht. Nur mit meiner eigenen konnte ich mich nicht abfinden.

Ich wünschte mir meine Mutter sehnlicher denn je zuvor zurück. Noch nie hatte ich eine ihrer warmen Umarmungen so nötig gehabt wie gerade. Ich wollte spüren, wie sich ihr Atmen in meinen Haaren verfing und sie mir sanft über den Kopf strich. Ich sehnte mich nach ihrer beruhigenden Stimme und den Klang ihrer Ohrringe, wenn sie ihren Kopf bewegte. Aber ich war alleine.

Die einzige Person, die meine Trauer über den Verlust meiner Mutter mit mir teilte, war mein Vater. Aber auch von ihm hatte ich mich in letzter Zeit abgewandt. Ein Stück weit wird dies normal sein, denn ich war jetzt offiziell erwachsen und musste mich selbst in der Welt zu Recht finden, aber ich wollte nicht, dass das eigentlich so gute Verhältnis zu meinem Vater litt.

Ich seufzte schwer und starrte mich im Spiegel letztendlich doch an. Wie hatte ich das alles nur zulassen können ohne es zu bemerken? Jetzt war es zu spät um noch irgendetwas zu ändern. Ich konnte nur hoffen, dass Kimberly mir irgendwann einmal vielleicht verzeihen könnte. Seit dem Abend hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Demnach wusste ich auch nicht, wie übel sie mir diese Aktion nahm. Zumindest war unsere Freundschaft erst einmal auf Eis gelegt.

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In diesem Jahr fuhr ich alleine zum Friedhof. Mein Vater konnte sich den Tag nicht frei nehmen, also wollten wir abends gemeinsam zum Grab fahren. Aber ich verspürte das Bedürfnis mit meiner Mutter alleine sein. Ich wollte ihr ein paar Worte in den Himmel schicken, bei denen lieber kein anderer anwesend sein sollte.

Also nahm ich die U-Bahn und fuhr eine halbe Stunde lang zu dem Ort, den ich am meisten mied. Ich brauchte das Grab nicht, um mich an meine Mutter erinnern zu können und in unserer Wohnung fühlte ich mich ihr näher als an diesem kalten Platz, an dem ihre Asche einen Meter unter der Erde lag. Das war nicht meine Mutter. Meine Mutter war bis zum Einsetzten der Krankheit eine lebhafte, vorlaute, schöne Frau gewesen, die keinen Gedanken an den Tod verschwendet hatte.
Dieser Ort passte nicht zu ihr.

Trotzdem kniete ich mich vor dem Grabstein nieder. Ein bedrückendes Gefühl hatte sich wie ein Schleier über mich gelegt.

„Mama?", wisperte ich matt. Als würde ich eine Antwort erwarten. „Wenn du mich hörst, sollst du erst einmal wissen, dass ich dich hier vermisse. Ich hoffe, du hast da oben eine Menge Spaß, denn wenn nicht, bin ich echt sauer." Ich verdrehte die Augen. Gott existierte nicht. Die Welt war durch den Urknall entstanden und wir Menschen gehen aus der Evolution nach Darwin hervor. Doch es bestand ein Funken Zweifel. Man konnte sich dem, was man glaubte zu wissen, nie ganz sicher sein. Der Verstand des Menschen ist stark eingeschränkt und wenn die Seele meiner Mutter hier irgendwo verweilte und ich nichts davon ahnte, konnte sie mich gerade hören.

„Hier ist grad alles scheiße. Ben hat mich betrogen und dann hab ich ihn betrogen. Also eigentlich nicht, weil wir zu dem Zeitpunkt nicht mehr zusammen waren... Aber es direkt danach und eigentlich hätte ich ihm dann doch hinterher trauern müssen, oder nicht? Ich vermisse ihn nicht einmal wirklich. Oh Gott, das kann ich doch nicht laut aussprechen. Wenn mich einer hören könnte... Kimberly und ich sind gerade auch nicht mehr wirklich befreundet. Ich wünschte, dass du jetzt hier bei uns wärst. Papa vermisst dich auch sehr, denke ich. Wir haben recht wenig miteinander gesprochen in den letzten Wochen. Aber ich glaube ansonsten geht's ihm ganz gut. Ich weiß nicht einmal, wieso ich dir versuche das hier zu sagen. Du bist tot. Aber ähm... Naja, das ist das Update gerade." Ich seufzte laut. Meine Mutter verpasste so viel von meinem Leben. Sie hatte Ben nicht einmal mehr kennengelernt, sie würde nie auf meinem Abiball tanzen, an meiner Hochzeit dabei sein, meine Kinder mit Schokolade vollstopfen und sie würde mich nie als Erwachsene erleben. Sie hatte ja nicht einmal mein jetziges Ich kennengelernt. Sie konnte mir nicht beistehen, mir keinen Trost mehr geben. Stattdessen verstärke ihre Abwesenheit alles nur noch mehr. Ich war alleine in dieser großen Welt.

[24.12.2017]

Hier ein kleines Geschenk von mir zu Weihnachten♥ Lasst euch nachher alle schön beschehren!!





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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 24, 2017 ⏰

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