Der Kreis schließt sich

249 29 8
                                    


Die Sonne schiebt sich hinter den grauen Wolken hervor und verleiht dem Backsteingebäude einen heimlichen Schein. Eric ergreift meine Hand. Sie ist warm und rau. Alles ist perfekt. 

Die ersten Gäste kommen. Zu der standesamtlichen Trauung haben wir nur die engsten Freunde und Familie eingeladen. Weil Eric sehr gläubig ist, soll danach eine kirchliche Hochzeit folgen. Ein vertrautes Gesicht nach dem anderen nimmt mich in den Arm. Alle sehen glücklich aus. 

Mein Herz flattert, ich glaube, es schlägt viel zu schnell. Ich glaube, ich bin viel zu nervös. Ich warte darauf, dass auch ich von den Glücksgefühlen erfüllt werde. 

Dann, plötzlich, passieren zwei Dinge gleichzeitig. Ein  weißer Mercedes hält direkt vor dem Standesamt und zwei Menschen steigen aus, die mir sehr ähnlich sehen. Die Frau hat mehr graue Haare, als das letzte Mal, als ich sie gesehen habe. Der Mann trägt einen längeren Bart. Ich starre die beiden an und bin nicht in der Lage meinen Blick abzuwenden, als dahinter jemand um die Ecke biegt, den ich bereits sehnsüchtig erwartet habe. Hazel scheint über den Bürgersteig zu schweben. Sie trägt ein blaues, knielanges Kleid. Schlicht, aber wunderschön. Unsere Blicke treffen sich, sie nickt mir zu und ein Lächeln umspielt ihre Lippen. 

Zehn Meter vor ihr schauen sich meine Eltern suchend um. War es die richtige Entscheidung, sie einzuladen? Da bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich bekomme weiche Knie, lasse Eric los. Fragend guckt er mich an. "Ich muss nur ganz kurz...", murmele ich und laufe davon, so schnell, wie es in den hohen Schuhen eben geht. Zwei alte Freunde aus Island runzeln die Stirn, als ich an ihnen vorbei komme und im Innenraum des kleinen Standesamtes verschwinde. Meine Schritte hallen laut über den kühlen Boden. Ich finde den Weg zur Toilette und bin froh, als ich die Tür hinter mir schließen kann. Ich lege den Kopf in den Nacken, atme mit geschlossenen Augen tief ein und aus. 

Einige Sekunden verharre ich so, dann öffne ich die Augen. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken starrt mir mein eigenes Gesicht entgegen. Unter der dicken Schicht Schminke, den hochgesteckten Haaren und in dem engen weißen Kleid ist nicht mehr viel von meinem eigentlichen Ich zu erkennen. Nachdenklich betrachte ich das Kleid. Die Leberwurst-Beraterin wäre sicher enttäuscht, dass es keine Flossen hat. Es ist schlichter als das für die kirchliche Trauung und kaschiert meinen schwangeren Bauch gut. Es ist alles perfekt. Ich hole noch einmal tief Luft, dann trete ich zurück in die Halle. Die Gäste haben sich mittlerweile alle im Trausaal eingefunden. Ich bin alleine. Dieser Raum gleicht mehr einem Wartezimmer beim Arzt, als dem romantischen Ambiente, welches ich mir immer vorgestellt habe. Draußen hat sich bereits die nächste Hochzeitsgesellschaft versammelt. Massenabfertigung eben. Einige Stühle sind ungleichmäßig im Gang verteilt und aus zwei kleinen Lautsprechern erklingt leise Radiomusik. 

Jemand legt von hinten seine Hände auf meine Schultern. "Bereit?", fragt Eric. Er tritt neben mich und lächelt verträumt. Ich nicke. "Bereit." Ich greife nach seinem Arm, weil ich das Gefühl habe, mich irgendwo festhalten zu müssen. "Ich liebe dich", flüstert er und wir machen uns gemeinsam auf den Weg. 

Aus den Lautsprechern erklingt eine Gitarre, sanfter Gesang, ein Kontrabass. Ich brauche einige Sekunden, um das Lied wiederzuerkennen. Mitten in der Bewegung verharre ich. Ohne, dass ich etwas dagegen tun könnte, beginnen sich vor meinem inneren Auge Bilder zu formen. Innerhalb weniger Sekunden sehe ich die letzten Monate noch einmal an mir vorbeiziehen. Die Begegnung mit Hazel in der Bar, die gemeinsame Nacht, der Heiratsantrag, die Schuldgefühle, die Verzweiflung und die Schmetterlinge in meinem Bauch. All das kommt schlagartig wieder hoch und ist so präsent, wie lange nicht.

Und plötzlich, weiß ich, was ich tun muss.

Auch Eric ist stehen geblieben. "Kommst du Ruby?" Ich starre ihn an. Er starrt zurück. Ich finde keine Worte, um das auszudrücken, was ich sagen muss. "Es tut mir Leid." Heiße Tränen laufen über meine Wangen und tropfen auf das weiße Kleid. Eric versteht nicht, was los ist. Ich will mich umdrehen, doch er packt mich am Arm. "Ruby?" Ich schüttele ihn ab und schaffe es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. "Ich kann das nicht." 

Hazel EyesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt