Vierundzwanzig

2.1K 109 6
                                    

Ein seltsames Gefühl überkommt mich, als wir beide durch das kleine Tor der Friedhofsmauer treten. Diese Trauer darum, dass ich Maya nie wiedersehen werde, gemischt mit einem Gefühl der Unsicherheit gegenüber Swan.

Meine Beine tragen mich ganz alleine in Richtung von Mayas Grab. Im vergangenen Jahr habe ich so oft diesen weißen, marmornen Grabstein mit der eingravierten Inschrift besucht, dass ich den Weg mehr als nur auswendig kenne.

Swan sagt nichts und ihre Stille zeigt mehr Respekt als die beste Trauerrede, die ich je gehört habe. In meinen Augen bilden sich bereits Tränen, doch noch bevor sie meine Wangen hinablaufen können, küsst mich Swan sanft. Diese kleine Geste ihrer Unterstützung gibt mir eine solche Kraft, dass die Tränen wieder versiegen.

Ohne dass ich es wirklich bemerkt habe, sind wir bei Mayas Grab angekommen. Ich starre lethargisch auf den Grabstein und frage mich, wo ich jetzt wohl wäre, wenn Maya nicht gestorben wäre.

„Lilly?", durchbricht Swans Stimme die Stille. „Meinst du nicht, dass wir langsam wieder gehen sollten?" Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Was mir vorkam wie wenige Sekunden, waren in Wirklichkeit beinahe zehn Minuten. Zehn Minuten, in denen ich bloß diesen Grabstein angestarrt habe. Zehn Minuten, in denen auch Swan nur geschwiegen und meine Hand gehalten hat. In denen sie einfach für mich da war.

„Ja... können wir. Ich liebe dich, Swan. Danke."

Langsam wenden wir uns wieder dem Tor zum Friedhof zu. „Was genau ist eigentlich mit Maya passiert?", fragt Swan vorsichtig und sagt gleich noch dazu: „Wenn du nicht willst, brauchst du es mir auch nicht sagen."

„Unfall", antworte ich einsilbig. „Letztes Jahr an meinem Geburtstag. Jemand hat die rote Ampel ignoriert und sie angefahren. Sie ist im Krankenhaus gestorben."

Plötzlich spüre ich, wie mich Swan in eine enge Umarmung zieht. „Das tut mir so leid..." Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Swan streicht mir immer wieder mit dem Daumen über die Wange, doch es kommen immer neue Tränen.

Ich habe keine Ahnung, wie lange wir eng umklammert am Friedhofstor stehen, doch als ich es endlich schaffe, mich wieder von ihr zu lösen, ist mir kalt. Swan hakt sich bei mir unter und zieht mich sanft durchs Tor. „Du brauchst nicht weinen. Ich bin bei dir", sagt sie, auch wenn mittlerweile nur noch vereinzelte Tränen sich ihren Weg meine Wangen hinab bahnen.

„Danke", antworte ich trocken. Ich schaffe es nicht, noch mehr zu sagen, deshalb versuche ich, ihr mit diesem einen Wort deutlich zu machen, wie dankbar ich ihr bin und wie viel sie mir wirklich bedeutet.

„Ist schon gut." Wir schweigen den Rest des Heimweges, aber lassen einander nicht eine Sekunde lang los. Ihre Hand ist so warm und weich, meine dagegen eiskalt und trotzdem verschwitzt. Die Erinnerung an Maya, sie hat mich einfach wahnsinnig gemacht.

Wahnsinnig traurig auf der einen Seite, natürlich. Jemanden zu verlieren, den man so sehr geliebt hat, ist nicht einfach so zu vergessen. Auf der anderen Seite bin ich aber auch wahnsinnig glücklich. Ich habe jetzt Swan und sie hilft mir sogar, über den Tod hinwegzukommen, der bereits ein Jahr in der Vergangenheit liegt.

„Ich will wissen, wer es ist", platzt sie plötzlich heraus. „Ich schwöre dir, ich drehe ihm... oder ihr, wie auch immer, eigenhändig den Hals um, wenn du nicht in Ruhe gelassen wirst."

„Lass uns doch erst einmal wieder nach Hause gehen", schlage ich vorsichtig vor. In ihren grünen Augen lodert ein Feuer, ein Feuer der Wut und der Rachsucht. Unter anderen Umständen hätte mir dieser Ausdruck vermutlich Angst eingejagt, aber ich weiß genau, dass mich genau diese wütende Entschlossenheit schützen wird. Swans Beschützerinstinkt ist echt beeindruckend.

„Na schön. Wenn du meinst."

„Ja, meine ich. Und hör auf, so zu gucken, als ob du gleich jemanden erstechen willst."


Speed DatingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt