Schlaflos

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Die ganze Nacht fand ich keine Sekunde Schlaf.
Der Freistoß und das Gegentor waren längst vergessen, während sich Lukas' und mein Wiedersehen in der Kabine im Loop vor meinem inneren Auge abspielte.
Ich hatte ihn nie vermisst, aber ich hatte es vermisst, mit ihm Sex zu haben. Und das machte mir Angst.
Valerie und ich hatten eine glückliche Beziehung, im Bett und außerhalb. Ich hatte in keiner Sekunde gezweifelt, dass das vor fünf Jahren eine einmalige Geschichte war.
Bis er gestern Abend in die Kabine gekommen ist und meine Gedanken auf den Kopf gestellt hat.
Da ich Angst hatte, durch mein ständiges Hin- und Hergewälze Valerie aufzuwecken, setzte ich mich mit meinem Laptop in die Küche. Jesse war außergewöhnlich ruhig diese Nacht, aber ich hätte gerne ein wenig Ablenkung gehabt. Die Gedanken ließen sich nicht aus meinem Kopf vertreiben. Das ganze Internet war voll von Bildern, Videos und Interviews von Lukas.
Es war unmöglich, ihn zu vergessen, also musste ich das mit ihm schnellstmöglich klären.
Ich suchte nach seinem Facebookprofil, bis ich bemerkte, dass er vermutlich so viele Nachrichten bekäme, dass er meine gar nicht bemerken würde.
Lukas Ströbel, SportlerIn. 923.045 Personen gefällt das.
War das überhaupt der Lukas, den ich vor fünfzehn Jahren kennengelernt und vor fünf Jahren verloren hatte?
Ich begann, durch seine Bilder zu scrollen. Er stylte seine Haare noch genau so wie damals. Diesen Pulli hatte er auch schon getragen. Und an diesem Ort -
Ich stockte, als ich den Bürgerpark im Hintergrund erkannte. Das Foto war erst in der Winterpause gepostet worden.
Wieso war Lukas in Bielefeld gewesen, ohne mir Bescheid zu geben? Seine Familie lebte hier nicht, und er hatte eigentlich auch keine Freunde hier. Den einzigen Bielefelder, den er außer mir noch kannte, war Ben. Und die beiden hatten nicht besonders großen Kontakt miteinander gehabt.
Trotzdem musste ich wissen, warum Lukas hier in der Stadt gewesen ist, und schrieb daher Ben an. Ich hatte Glück, denn er schien schon wach zu sein und antwortete auf der Stelle.

[09.02.2016, 5:34Uhr] Timmääää: hast du dich in der Winterpause mit Lukas getroffen?
[09.02.2016, 5:34Uhr] ben griffëy: wtf, nein, warum?
[09.02.2016, 5:35Uhr] Timmääää: nur so.
[09.02.2016, 5:35Uhr] ben griffëy: geh schlafen, tim.

Doch ich konnte nicht schlafen. Allerdings hatte ich auch genug von Lukas und klappte den Laptop zu. Aus Jesses Zimmer ertönte ein Wimmern. Bevor er Valerie wecken konnte, nahm ich meinen Sohn aus seinem Bett.
„Komm, wir gehen ins Wohnzimmer, damit Mama weiterschlafen kann", flüsterte ich ihm zu. Wie fast immer gab Jesse sofort Ruhe, als er auf meinem Schoß auf dem Sofa saß. Ich hätte auch keine Ahnung gehabt, was zu tun gewesen wäre. Selbst wenn ich jetzt schon seit anderthalb Jahren Vater war, ich verstand nie genau, was dieses Kind brauchte. War er hungrig? Müde? Hatte er Schmerzen, oder doch nur eine volle Windel?
Valerie musste ihn nur einmal ansehen und wusste sofort, was ihm fehlte. Ist das ein Mutterinstinkt, den wir Männer gar nicht entwickeln können?
Plötzlich vibrierte mein Handy. Ich brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, dass mich niemand anrief, sondern dass es der Wecker war, den ich mir gestellt hatte.  6 Uhr morgens. Warum zur Hölle musste ich um diese Uhrzeit raus? Wir hatte heute sogar trainingsfrei.
Lukas. Sein Bus musste bald abfahren. Auch, wenn ich mir spätestens nach unserem Aufeinandertreffen in der Kabine geschworen hatte, ihn nie wieder zu sehen, ich musste ihm noch einige Fragen stellen. Und danach, danach würde ich ihn auf jeden Fall nie wieder sehen.
Schnell lief ich in Jesses Zimmer, um dessen Jacke, Mütze und Handschuhe zu holen. Er quengelte, während ich versuchte, ihn anzuziehen, und ich betete, dass Valerie davon nicht aufwachen würde. Ich hatte nämlich keine gute Ausrede, wohin ich morgens um sechs mit Jesse hingehen könnte.
Doch ich hatte Glück.
Von den Treffen mit meinen Freunden, die bei anderen Vereinen spielten, wusste ich, in welchem Hotel die Mannschaften wohnten, wenn sie in Bielefeld waren. Auch der BVB machte dabei keine Ausnahme, denn ich sah schon von Weitem den schwarz-gelben Bus vor dem Eingang parken. Die ersten Spieler verließen bereits das Hotel, so dass ich mich beeilen musste, um Lukas nicht zu verpassen.
„Papa ist gleich wieder da!", rief ich Jesse zu. Ich hatte kein gutes Gewissen bei dem Gedanken, ein Kleinkind alleine im kalten Auto zu lassen, doch es würden ja nur ein paar Minuten sein.
Unauffällig näherte ich mich dem Hotel und blieb in einiger Entfernung stehen - weit genug, um nicht als Fan zu gelten, nah genug, dass Lukas mich erkennen konnte.
Und das tat er. Er überreichte seinen Koffer dem Busfahrer und lief zu mir, während er seinen Kopfhörer in den Nacken schob.
„Tim! Was machst du denn hier?" Er grinste, doch das konnte den unsicheren Unterton seiner Stimme nicht vor mir verbergen.
„Was war das gestern?" Sein Lächeln verschwand augenblicklich. Er suchte nach den richtigen Worten.
„Ich hab' dich vermisst, Timi", sagte er schließlich.
Es war das zweite Mal, dass er diesen Satz zu mir sagte. Diesmal machte er mich wahnsinnig wütend. „Ach, du hast mich vermisst? Komisch, dass ich dann in den letzten fünf Jahren kein Sterbenswörtchen von dir gehört habe! Kein Treffen, kein Anruf, noch nicht mal eine Nachricht! Und jetzt kommst du hier wieder an, überfällst mich in der Kabine und sagst du hast mich vermisst? Ich bin fertig mit dir, Lukas." Ich wand mich zum Gehen, doch Lukas packte mich am Arm.
„Dann lass es mich doch erklären", flehte er mich an. Für einen Moment schien es so, als würde ich ihm tatsächlich etwas bedeuten.
„Kann nicht. Mein Sohn wartet im Auto", unterbrach ich ihn harsch.
Lukas Unterkiefer klappte nach unten. „Du - du hast einen Sohn?"
„Ja, habe ich. Und eine wundervolle Freundin, die ich bald heiraten werde." Der letzte Satz war gelogen, auch wenn es gerade wie eine Möglichkeit erschien. Ich sollte Valerie nach vier Jahren Beziehung vielleicht tatsächlich einen Antrag machen.
„Das freut mich für dich", log Lukas. Ich drehte mich wortlos um und ging langsam zurück zu meinem Auto.
„Wenn du doch so glücklich mit deiner Familie bist, wieso hast du das gestern dann überhaupt zugelassen?", schrie Lukas mir hinterher, doch die Frage hätte ich ihm nicht einmal beantworten können, wenn ich gewollt hätte.

Inkompatibel [definitiv kein Timigatoah AU]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt