Schlagzeilen

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In den nächsten Tagen gingen meine Gedanken an Lukas im Trainingsstress unter. Nach unserer unglücklichen Niederlage im Pokal setzte Stefan jetzt alles auf die Liga, wo es trotz anfänglich gutem Start zuletzt etwas gehapert hatte.
Zwei Unentschieden und drei Niederlagen aus den letzten fünf Spielen ließen uns nun wieder Tabellenkellerluft schnuppern.
Ich wollte mit keinem über meinen Fehler im Pokal sprechen. Zuerst versuchten Teamkollegen und Trainerstab, mich darauf anzusprechen, doch nachdem sie merkten, dass ich jedes Mal abblockte, gaben sie es schließlich auf.
Es war eben allein meine Sache, die die anderen jetzt eben ausbaden mussten, aber in ein, zwei Wochen war das ohnehin vergessen.
So war das bisher mit allen Schlagzeilen gewesen.
Nachdem Hardy aus der zweiten Mannschaft zu uns Profis aufgestiegen war, hatte es haufenweise Reportagen über uns drei Brüder gegeben. Zeitungen, Blogs und Fotografen waren davon begeistert gewesen, dass wir alle vom Fußball leben konnten und auch noch alle für den gleichen Verein spielten. Als wäre das so besonders gewesen. Außerdem war Hardy genau gesehen ja nur unser Halbbruder, was natürlich in keinem einzelnen Artikel erwähnt wurde.
In den letzten Tagen hatte ich Medien und Fans gezielt vermieden. Ich wollte nicht über die "dramatische Niederlage" lesen, mein Versagen aus 30 verschiedenen Kameraperspektiven betrachten und Lukas überglückliches Grinsen auf jeder zweiten Titelseite entdecken.
Doch auch diese Nachrichten waren bald keine News mehr. Wir holten gegen den KSC einen deutlichen Sieg heraus, Ben riss sich irgendwelche Bänder und Konrad wurde zum Tor des Monats nominiert.
All das brachte mich ins Grübeln, ob es nicht genauso gewesen wäre, wenn das mit mir und Lukas damals an die Öffentlichkeit gekommen wäre. Klar, zwei Wochen absolute Panik und Ausnahmezustände in sämtlichen Redaktionen, Foren und Vereinsvorständen, aber danach vermutlich nichts mehr.
Vielleicht sogar etwas wie Freiheit.
Wieso habe ich mir damals so viele Sorgen darüber gemacht? Ich war 26, Single, spielte bei irgendeinem mittelklassigen Zweitligaverein. Ich war nichts Besonderes, hatte keine Ahnung, was ich im Leben wollte außer dem Fußball.
Und jetzt - jetzt klang das Ganze wie die geheime Liebschaft in einem schlechten Roman.
Tief in einer intakten Beziehung, Vater eines kleinen Kindes und Besitzer eines Hauses mit Hund, Katze und allem, was zu einem 0815-Leben dazugehörte.
Wenn ich das alles aufgeben würde, wäre das mehr als nur zwei Wochen Schlagzeilen. Es wäre lebenslang abwertende Blicke und Beleidigungen auf offener Straße. Es wäre Valerie verlieren und Jesse nie wieder sehen.
Es war ein Wunder, dass ich in meiner geistigen Abwesenheit beim Training noch verhältnismäßig gut war. Gut, ich jagte den Ball während einer Einheit mit Fullspeed gegen den Pfosten, ohne an den Rückprall zu denken, war in manchen Zweikämpfen ungewollt brutal und stolperte fast über jedes Hütchen, das je den Rasen auf diesem Trainingszentrum berührt hatte, aber das spiegelte die Arbeit, die mein Gehirn leistete, nicht im Geringsten wieder.
Trotzdem war es Anlass genug für Stefan, mich nach dem Nachmittagstraining zur Seite zu nehmen.
„Tim, was ist denn nur schon wieder los? Ist es immer noch Dortmund?", fragte er mich, und mit seinem besorgten Blick und den wirren Locken sah er aus wie ein trauriger Pudel.
Ich schüttelte den Kopf. Mein Trainer war der Letzte, dem ich von meinen Problemen erzählen würde.
„Du musst dir wirklich keine Vorwürfe machen. Du hast gegen Karlsruhe so super gespielt, dass dir jeder deinen kleinen Aussetzer verziehen hat!" Das war ziemlich übertrieben. Ich hörte die Leute beim Training immer noch "Scheiß Weitkämp" rufen, wenn ich vorbeilief.
„Oder ist was mit Valerie? Mit Jesse?", hakte Stefan weiter nach.
Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Nein, alles bestens. Mir fehlt vermutlich nur ein bisschen Schlaf."
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte ich mich um und ging.

Inkompatibel [definitiv kein Timigatoah AU]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt