3. Sitzung

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"Willkommen zurück, Emily."

"Hallo Eric."

"Also. Wie war ihr Tag bisher?"

"Es gibt einen Grund, weshalb ich das College abgebrochen habe."

"Sind sie sich sicher, dass sie jetzt schon bereit dafür sind, mir von sich zu erzählen?"

"Ja. Also, nicht ganz. Zu achtzig Prozent vielleicht. Aber ich möchte es riskieren."

"Also gut. Ich höre zu."

"Ich werde wohl von ganz von vorne Anfangen müssen, wenn das ok ist."

"Ich bin ganz für sie da. Nehmen sie sich so viel Zeit, wie sie brauchen."

"Ok. Ehm ... Es ist schwer einen Anfang zu finden. Ich lege mal einfach los, und schaue, was dabei raus kommt. Sitzen sie bequem?"

"Sehr bequem."

"Möchten sie vielleicht noch ein Glas Wasser, bevor es los geht?"

"Emily, wenn sie sich noch nicht sicher sind, dann ist das vollkommen ok."

"Ich will aber."

"Ich höre zu."

"Ok, also. Es beginnt in den Ferientagen am Ende meiner Schulzeit, in denen ich Mason kennen gelernt habe. Er war mit ein paar Freunden unterwegs und wohl mit abstand der Schönste in der Runde. Obwohl wir in Schweden waren, stach sein blondes Haar und die blauen Augen besonders heraus. Ich habe mich direkt zu ihm hingezogen gefühlt... Das komplette Gegenteil von ihnen, fällt mir grade auf ... Damit meine ich nich, dass - also, es sollte nicht-"

"Ist schon ok, Emily. Fahre fort."

"Ok ... Es viel mir damals sehr schwer, mich neuen Leuten zu nähren oder gar, sie anzusprechen. Aber irgendwann habe ich mich bei ihm getraut, denn ich hatte angst, etwas zu verpassen und es anschließend zu bereuhen. Jedenfalls war es Abends und wir saßen alle  beieinander am Strand um ein kleines Lagerfeuer herum. Mason und ich haben uns die ganze Zeit gut verstanden, viel geredet und viel gelacht. Das kribbeln hat bei beiden von uns eingesetzt. Es hatte sich so schön angefühlt, und wir haben uns geküsst. Ab da sahen wir uns jeden Tag, bis sie wieder abreisten. Das mir der Abschied von einer Person so schwer fallen würde, hätte ich nie für möglich gehalten. Dieser Schmerz und diese Sehnsucht, die gleichzeitig auf einen einschlagen - es ist kaum aushaltbar. Doch er versprach, mir jeden Tag zu schreiben und am Wochenende würden wir jeden Tag telefonieren. Das haben wir auch getan, monate lang. Wir haben uns immer wieder gesehen und verabschiedet. Immer und immer wieder, bis die Schule zuende war. Nicht Oxford war der Grund, warum ich nach England wollte. England war der Grund, warum ich nach Oxford wollte. Ich wollte nahe bei ihm sein - für immer, jeden Tag. Mich nie wieder verabschieden. Also sprachen wir darüber und planten gemeinsam unser Zusammenleben. Es lief alles wie geschmiert - es gab keine Komplikationen - es schien fast wie ein Wunder. Ich habe ein erfolgreiches Semester überstanden, war sogar Jahrgangsbeste, bis es eben passierte ... Eric."

"Ja?"

"Bitte leg das Notizbuch weg."

"Emily, ich will sie damit nicht ärgern. Ich versuche lediglich mein Bild von ihnen fest zu halten. Ich möchte nicht, das irgendwas von dem, was sie mir anvertrauen, in Vergessenheit gerät."

"Ich weiß nicht, ob ich das möchte ... Vergessen ist menschlich. Jeder vergisst einmal."

"Es gehört zu meinem Job, mir alles einzuprägen, was einen Menschen ausmacht, um keine falschen Urteile zu fällen, verstehen sie?"

"Aber ich erzähle die Geschichte ihnen, und nicht ihrem Buch!"

"Emily, bitte. Setzen sie sich wieder."

"Möchten sie wissen, wie ich mich grade fühle? Ich fühle mich angespannt. Ich bin wütend, Eric. Und wo ist das Wasser, was sonst immer auf dem Tisch steht?"

"Auf der Kommode. Nimm dir ein Glas."

"Genau das hatte ich grade vor!"

"Möchtest du weiter erzählen?"

"Nein."

"Tut mir leid, Emily. Ich wollte dich keinesfalls verärgern. Es ist eine Routine die ich für mich selbst anwende. Ich muss-"

"Sie haben es mir eben erklärt. Ich versehe schon."

"Wieso setzt es ihnen so zu?"

"Es wirkt, als würde ich nicht mit einem Menschen reden. Als wären sie nur ein Roboter der sich alles gesagte speichert, um es in die Datennetze und in die Clound weiter zu schicken und sonst was alles. Was ich ihnen erzähle, soll in ihren Kopf gehen. In ihr Herz. Nicht auf ihren Block."

"Ich verstehe. Es tut mir leid."

"Mhm."

"Ich hoffe, du möchtest das Gespräch dennoch fort setzen. Wir haben noch zwanzig Minuten."

"Ja, vielleicht ... Mit dieser Laune möchte ich nicht aus dem Raum gehen."

"Das ist eine gute Einstellung. Also, Emily. Gibt es sonst etwas, was ich von ihnen erfahren sollte?"

"Was willst du denn wissen?"

"Zum Beispiel: Wie alt sind sie?"

"Grins nicht so, sonst muss ich auch lächeln."

"Das ist doch gut."

"Wenn sie weiter so lächeln, bekommen sie schon ganz bald richtige Falten."

"Dann erspreche ich ihren Erwartungen."

"Ich mag meine Erwartungen nicht. Die Realität gefällt mir besser."

"Das ist ein Satz, der sich mit allem, was sie bisher gesagten, schneidet."

"Das verstehe ich jetzt nicht."

"Nun ja, meist versuchen Menschen, sie und mich eingeschlossen, der Realität zu entfliehen und ihren Erwartungen gerecht zu werden. Das komplette Gegenteil von dem, was sie eben sagten."

"Tja, ich bin eben ein Mysterium."

"Da haben sie wohl recht. Also Emily, ich muss sie leider schon wieder raus schicken."

"Ok. Es war schön heute. Ich mag ihr Lächeln. Sie haben sehr weiße Zähne."



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