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Ich seufzte als ich in Sportsachen auf die Straße trat. Cole hatte vorgeschlagen, dass er sein Praktikum einfach schwänzen und bei mir bleiben könnte, doch ich hatte ihn schließlich doch noch dazu überredet bekommen hinzugehen.

Nach einem Glas frisch gepressten O-Saft (ein alter Trick meiner Schwester um Augenringe morgens los zu werden) hatte ich mich umgezogen und beschlossen, dies mal in die andere Richtung zu laufen als sonst, Richtung East Harlem. Wie von allein lenkten meine Beine mich zu einer Kreuzung etwa drei Blocks östlich des Central Parks. Nach Luft schnappend blieb ich stehen und stemmte meine Hände auf die Knie.

Ich fixierte die Kreuzung mit meinem Blick. Hier und da liefen ein paar Fußgänger, doch es herrschte vergleichsweise wenig Verkehr.

Wie hypnotisiert ging ich auf die Straße ohne mich nach links oder rechts umzusehen. Kurz vor einer Markierung mit einem Linkspfeil blieb ich stehen und starrte den grauen trostlosen Asphalt an. Die Kreidemarkierungen der Polizei waren natürlich schon längst vom Regen und den vielen Autoreifen abgetragen, aber ich brauchte sie nicht um das Bild der drei ineinander geprallten Autos vor Augen zu haben. Ich hatte es oft genug in den Nachrichten gesehen. Millionen Bilder und Erinnerungen schienen auf einmal auf mich einzuprassen. Sie folgten so schnell hintereinander, dass ich nur ein undurchsichtiges buntes Schimmern wahrnahm. Die Stimme meines Vaters spukte durch meinen Kopf, wie er mir sagte, ich solle mit meiner Grippe lieber zu Hause bleiben. Wenn du sie nicht auskurierst verschleppst du sie nur und kriegst am Ende eine Lungenentzündung.

Ich schlug mir die Hände vors Gesicht und ging in die Knie, damit mir meine Beine nicht wegknickten. Und da verstand ich es. Diese Stadt mochte mein zu Hause sein und der tollste und aufregendste Ort der Welt, aber sie würde auch immer der Platz bleiben, an dem ich meine Familie verloren hatte. Der Ort, an dem mein Leben in die Brüche gegangen war. Ich würde mich hier nie mehr so geborgen fühlen können, wie damals.

Mein Kopf dröhnte, alle meine Knochen und Muskeln schienen zu brennen und meine Lunge zog sich zusammen. Mein Herzschlag war so laut, dass ich fürchtete mein Trommelfell würde explodieren.

Deshalb hörte ich es auch nicht kommen. Ich hörte die Hupe nicht und ich hörte das Mädchen auf dem Bürgersteig nicht, das laut „Pass auf!" schrie. Mein Herz tat so weh, dass ich nicht einmal wahrnahm, wie sich die Stoßstange eines roten Ford Kombi in meine Hüfte bohrte und wie ich ein paar Meter weiter geschleudert wurde um dann mitten auf der Straße zu landen. Ich glaube, ich hatte nicht einmal geschrien.

Sogar als ich da so auf dem Boden lag und mit weit geöffneten Augen der Sonne entgegenstarrte, obwohl sie mich blendete, fühlte ich mich noch schwerelos. Ich spürte nichts. Weder mein Gewicht, noch die gebrochenen Rippen und unzähligen Prellungen, die ich vermutlich hatte. Für einen Moment bildete ich mir sogar ein, dass ich irgendwo in Florida am Strand lag und mich sonnte. Aber die vielen Menschen die plötzlich um mich herum standen, zerstörten diese Illusion.

„Wir brauchen sofort einen Krankenwagen.", hörte ich eine Frau schreien. Herrgott, warum war die denn so hysterisch. Am Ende würde sie noch einen Herzinfarkt kriegen und mir meinen Krankenwagen klauen, weil sie ihn dann vermutlich dringender brauchte.

Ich kicherte. Es war so absurd. Von allen Stellen, an denen mich in dieser riesengroßen Millionenstadt ein Auto hätte anfahren können, musste es natürlich ausgerechnet hier passieren. Als sich ein Mann Mitte vierzig über mich beugte und mir eröffnete, dass er Arzt war, begann ich noch lauter zu kichern. Direkt hinter ihm stand meine Schwester und alberte herum. Sie machte ihm Hasenohren und führte einen kleinen Ententanz auf.

„Hör auf, Lucy.", kicherte ich und versuchte ernst zu gucken. „Das ist sehr unpassend."

„Ihr Körper ist mit Adrenalin voll gepumpt.", erklärte mir der Arzt. „Deshalb spüren sie keine Schmerzen. Oder sie haben verdammt viel Glück gehabt und sind mit ein paar Schrammen davon gekommen."

„Aye, Aye, sir!", sagte ich in bestem Offizierston.

„Was redet sie denn da?", fragte eine Frau hinter dem Arzt.

„Das ist wahrscheinlich der Schock.", antwortete der. „Oder sie hat eine Gehirnerschütterung."

Plötzlich hörte ich in einiger Entfernung Sirenen, die schnell näher kamen. Ich drehte den Kopf etwas zur Seite und erhaschte einen Blick auf das rote Auto. Der Fahrer fluchte und lief aufgeregt vor dem Wagen auf und ab. Irgendwie tat er mir leid. Er hätte mich ja im Grunde gar nicht sehen können.

„Sie müssen liegen bleiben.", ermahnte der Arzt mich und schob meinen Kopf sanft zurück. Und in diesem Moment, als ich seine warmen schwitzigen Hände auf meiner Haut spürte, war es vorbei. Aus der Traum. Die Seite meines Hinterns, auf die ich gefallen war, fing plötzlich an höllisch wehzutun. Ich spürte den harten Asphalt unter mir und jedes Geräusch was ich hörte kam mir vor wie ein Eispickel, der mir mitten in die Stirn gebohrt wurde. Lucy war verschwunden und das Loch, das sie in meinem Herzen hinterlassen hatte, fing an zu wachsen.

Und dann übergab ich mich. Oder eigentlich kotzte ich mir regelrecht die Seele aus dem Leib. Ich war froh, dass ich am morgen nicht mehr zu mir genommen hatte, als ein Glas Orangensaft.

„Sie hat eine Gehirnerschütterung.", stellte der Arzt sachlich fest, nachdem ich mich auf seine Schuhe erbrochen hatte.

„Das hätte ich jetzt auch diagnostizieren können, sie Genie.", schnaubte ein Mann, der ein kleines Mädchen an der Hand hielt.

„Daddy, der sieht ja gar nicht aus wie ein Doktor.", sagte das kleine Mädchen und schaute zu ihrem Vater hoch.

„Ist er wahrscheinlich auch nicht. Er hat ja noch nicht einmal versucht dem armen Mädchen zu helfen."

„Hätten sie zufällig ein Stifneck da? Dann könnte ich hier auch was ausrichten!", verteidigte sich der Arzt.

„Hören sie doch nicht auf den.", murmelte ich. „Der hat doch keine Ahnung, seine Anatomie- und Erste-Hilfekurse sind bestimmt schon zwanzig Jahre her." Der Arzt schmunzelte. Ich schätze, die voll gekotzten Schuhe würde er mir verzeihen.

Als die Sanitäter eintrafen wurde ich sofort auf eine Liege gelegt und in das Innere des Krankenwagens verfrachtet. Das letzte was ich hörte, bevor die Türen zugeschlagen wurden, war wie draußen jemand rief: „Das ist doch Jackie Howard. Ihre Familie ist genau hier gestorben."

Mir wurde schlecht. Und ehe ich mich versah stach mir auch schon jemand eine Nadel in den Arm. „Das ist etwas zur Beruhigung und gegen die Schmerzen.", erklärte die Sanitäterin. Das letzte was ich sah waren die pinken und roten Punkte vor meinen Augen, als sich meine Lider schlossen.

Ich und die Walter Boys - Status quo: NYC #altending #justwriteit #wattpad10Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt