Nummer 4

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Nummer 4

Ich sah aus dem Fenster. Die Farben der Natur leuchteten im hellen mittaglichen Sonnenlicht. Milena würde gleich durch diese Tür kommen, dann würde ich wieder kämpfen müssen. Wie damals. Ich hielt meinen Dolch in der Hand. Das alles erinnerte mich an mein altes Zuhause. An den Unterricht von meinem Vater, der mir so viel beigebracht hatte, und der mir diese Waffe geschenkt hatte.

"Schneller, Eyrin, schneller.", rief mein Vater mir motivierend zu. Ich schlug mit einem hölzernen Schwert auf eine ebenso hölzerne Menschenfigur. Einmal links, einmal rechts, links, rechts. "Los, gib nicht auf, nicht langsamer werden!", trieben mich die Worte meines Vaters erneut an. Schweiß stand mir auf der Strin und rann mir den Rücken herunter. “Jetzt reicht es aber, sie ist doch erst elf!", erklang eine andere Stimme. Sie war heller und sanfter. Sie war die meiner Mutter. Mein Vater gab nach: "Nagut, für heute ist genug." "Aber Vater, du hast mir noch gar keinen neuen Trick mit dem Dolch gezeigt. Bitte Mutter, nur noch ein wenig.", hörte ich meine fröhliche kindliche Stimme. Aufgeregt tänzelte ich um die beiden herum. Meine Mutter sah ihren Mann streng an: "Sieh doch, zu was du sie erziehst, sie hat nur kämpfen im Kopf." "Kämpfen und nie aufgeben.", fiel ich ihr ins Wort und hob den Dolch mit gestrecktem Arm gen Himmel. "Da siehst du, was ich meine.", protestierte sie weiter und schüttelte den Kopf, "sie sollte Kleider tragen und sich die Haare flechten." Ich lachte laut auf, woraufhin mein Vater mir die Haare verwuschelte und meiner Mutter einen Kuss gab. Dann sagte er: "Also schön, lasst uns ins Haus gehn."

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. "Kämpfen und nie aufgeben.", wiederholte ich leise. Meine Faust spannte sich an und hielt den Dolch fest unklammert. "Vater, ich werde nicht aufgeben."

Ein leisen Klopfen kündigte Milena an. Zu meiner Überraschung stieg Vorfreude in mir auf. Ich fühlte mich wie das elfjährige Mädchen, das auf ein Spiel wartete. Mit einem Lächeln empfing ich meine Dienerin. Sie empfand jedoch Angst, Angst um mich. Mein Lächeln wurde breiter und ich sagte zufrieden: "Lass uns gehen! Ich bin schon gespannt wer mich unterrichten wird." Milena sah mich überrascht an. Nach meinem Zusammenbruch heute morgen, hätte sie nicht diese Begeisterung von mir erwartet. Ich hätte es selber auch nicht gedacht. Doch ich hatte den Gedanken an den Krieg akzeptiert und war bereit für mein Volk zu kämpfen.

Wir liefen wortlos durch die Gänge und Treppenhäuser. Unser Weg führte uns in das Kellergewölbe. Die Kälte der tiefen Räume kroch unter meine Kleider. Die schwarzen Leinen, die ich als Hemd und Hose trug, bieteten keinen Schutz vor solchen Temperaturen. Die Umgebung erinnerte mich unweigerlich an das letzte mal, als ich hier unten war. Vor vier Jahren. Ich fing an zu zittern und meine Muskeln spannten sich an. Ich verdrängte die Erinnerungen und straffte die Schultern. Nach 200 Schritten blieb Milena vor einer Holztür stehen und verabschiedete sich von mir: "Hier ist es, viel Glück."

Allein stand ich nun vor der Tür. Ich hob die Hand und klopfte an, das erschien mir am passensten. Von der Gegenseite kam keine Reaktion. Ich klopfte nochmal, lauter als zuvor. Doch ich bekam immer noch keine Antwort. Warten oder Eintreten? Ich entschied mich für Variante zwei. Also nahm ich den Knauf in die Hand und schob die Tür langsam auf. Der Raum war in Kerzenlicht gehüllt, das von vielen kleinen Wandleuchtern strahlte. In der Mitte des Raumes saß mir abgewandt ein Mann. Er trug schwarze Kleider und eine Kapuze verhüllte seinen Kopf. Als ich die Tür hinter mir schloss, stand er mit einer eleganten Drehung auf. Er schlug sich die Faust gegen die Brust und verbeugte sich knapp. Dann erhob er das Wort: "Prinzessin Eyrin, ich bin Nummer 4, euer Lehrer." Seine Stimme war rau und tief. Sie ließ ihn älter wirken, als er augenscheinlich war. Seine Gestalt, seine Miene, einfach alles an ihm strahlte Stärke aus. Um ihm Respekt zu zollen machte ich ebenfalls eine Verbeugung und antwortete ihm: "Danke, Nummer 4. Aber warum nennt ihr mir nicht euren richtigen Namen?" Er hatte diese Frage nicht erwartet, doch seine Augen zeigten nur für einen kurzen Blick Überraschung, dann sagte er emotionslos: "Ich bin ein Krieger. Ich habe keinen Namen mehr." Mir konnte man meine Verwirrung sicher ansehen. Er ließ mir kurz Zeit mich zu sammeln, aber nicht genug um nachzufragen, denn er sprach weiter: "Lasst uns beginnen, Prinzessin. Zum Nahkampf gehört weit mehr als ein Schwert zu schwingen. Setzt euch." Er deutete vor sich und ließ sich auf dem Boden nieder. Er hatte mich 'Prinzessin' genannt. Obwohl er es respektvoll und nicht abwertend gesagt hatte, gefiel es mir nicht. Ich wollte bei meinem Namen genannt werden, nicht wie meine Aufgabe. Ich wagte jedoch nicht ihn erneut zu unterbrechen, und so setzte ich mich ebenfalls. Dann sprach er weiter: "Schließt nun eure Augen und hört auf euren Atem. Hört auf jeden einzelnen Atemzug." Ich versuchte dies zu tun, fragte mich jedoch, was Meditation mit Kämpfen zu tun hat.

"Und nun beginnt euren Atem zu verlangsamen. Enspannt euch, lasst die Abspannungen aus euren Muskeln fließen. Konzentriert euch allein auf euren Atem." Seine Stimme war unglaublich beruhigend. Und wieder versuchte ich seinen Anweisungen zu folgen. Doch je mehr ich versuchte nur meinen Atem zu hören, desto mehr schweiften meine Gedanken in alle Richtungen ab. Es war, als würde ich all meine Sorgen, Hoffnungen und Ängste sehen. Dann kamen Kindheitserinnerungen hoch. Ich erlebte meine Entführung erneut. Ich saß wieder im dunklen Kerker. Dann spürte ich eine Hand auf der Schulter und schlug die Augen auf. Es war, als wäre ich aus einem tiefen Schlaf erwacht. Nummer 4 stand vor mir. Eine Sorgenfalte hatte sich auf seiner Stirn gebildet. "Ihr tragt große Lasten, Prinzessin." sagte er mit besorgter Stimme. Ich war verwirrt. Woher wollte er das wissen? Hatte ich laut gesprochen? Ich holte Luft um ihn zu fragen, doch er kam mir zuvor: "Die Kunst des Meditierens beherrscht ihr besser als ich dachte. Ihr habt geschrien und Tränen haben eure Wangen benetzt. Ich weiß nicht was ihr gesehen habt, und es geht mich auch nichts an. Aber es ist gut, dass ihr das alles seht. Ihr müsst eueren Geist leeren. Ihr müsst lernen alle Erinnerungen und Gedanken hinter euch zu lassen. Ihr müsst euch auf das hier und jetzt konzentrieren können. Nichts darf euch ablenken. Versucht es nocheinmal. Lasst diese Dinge in euren Geist eintreten und lasst sie dann los, lasst alles hinter euch. Legt die Emotionen ab. Im Moment des Kampfes muss euer Geist rein und frei sein." Ich sah in seine Augen. Darin war nichts zu erkennen. Die Besorgnis war verschwunden und an ihre Stelle war Nichts getreten. Alle Emotionen ablegen und die Erinnerungen loslassen. Das war ein schöner, aber unmöglicher Gedanke. Ich konnte all diese Dinge nicht vergessen. Obwohl ich es nicht wagen wollte, wiedersprach ich meinem Lehrer: "Ich kann das nicht. Ich kann nicht alles einfach hinter mir lassen. Und ich will nicht alles vergessen." Seine Hand legte sich wieder auf meine Schulter: "Ihr sollt nicht vergessen. Es wäre eine Dummheit seine Vergangenheit für nichtig zu erklären. Stellt euch vor, euer Geist wäre ein Raum. Eure Erinnerungen und Gedanken sind die Einrichtung. Bilder, Stühle, Vasen. Schließt die Augen und versucht es." Ich schloss die Augen. Ich beruhigte meinen Atem und stellte mir einen Raum vor. Ich sah mich in diesem Raum stehen. Plötzlich füllte sich der Raum. Es erschienen Gegenstände, Menschen. Er füllte sich rasend schnell und immer mehr Dinge erschienen. Ich drohte zu ersticken.

Ich schlug die Augen auf und schnappte nach Luft. Vor mir saß Nummer 4 und blickte mir fragend entgegen. Ich erklärte meine Lage: "Es funktioniert nicht. Der Raum ist nicht groß genug, es passt nicht alles hinein." Nummer 4 lächelte: "Es entspringt alles eurer Vorstellung. Wenn euer Zimmer zu klein ist, macht es größer. Richtet es so ein, dass alles hineinpasst." "So einfach ist das nicht!", wiedersprach ich ihm. Doch er sagte darauf nur: "Ist es das?" Und ich erkannte, dass er recht hatte. Also schloss ich wieder die Augen.

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