Der Plan

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Bedienstete trugen unser Besteck ab, da blickte Lore wieder zu mir auf. Sie nickte leicht, wie sie es so oft tat: „Die Fähigkeiten, die ihr besitzt, eigentlich hat jede von euch verschiedene, ihre ganz eigenen. Aber manchmal kommt es vor, dass sie sich wiederholen. Vor vielen Generationen, als wir noch ein Reich waren, gab es schon einmal eine Herrscherin, die wie Penelope Seelen klauen konnte. Doch sie hatte sich nicht unter Kontrolle. Sie wollte allen Frauen das Leben aussaugen. Es gibt Legenden darüber, dass sie den Traum hatte die einzige Frau auf der Welt zu sein, um von allen Männern begehrt zu werden. Die Legende erzählt von einer jungen Magd. Als sie an der Reihe war, ihre Seele zu geben, passierte etwas Erstaunliches. Die Herrscherin schaffte es nicht, so sehr sie sich auch bemühte. Das Mädchen blieb stärker. Sie ließ sie in den Kerker werfen und hungern, um sie zu schwächen und so besiegen zu können. Doch auch nach zwei Jahren konnte sie ihr die Seele nicht rauben. Stattdessen entwickelte die Magd die Fähigkeit, durch die Augen der Königin zu sehen. Sie erkannte ihre Ängste und Schwächen. Eines Tages, so erzählt die Legende, hat die Magd so den Platz der Königin eingenommen.“ Lore blickte mir in die Augen: „Ich habe immer geglaubt, diese Geschichten wären Märchen, um den Menschen Hoffnung zu schenken. Aber wenn das wahr ist, was du mir erzählt hast, könnten wir es nutzen.“ Ich verstand sofort worauf sie hinaus wollte: „Nein! Ich werde Penelope nichts antun, ich werde nicht ihren Platz einnehmen!“ Lore stand auf und kam zu mir hinüber. Sie legte behutsam eine Hand auf meine Schulter. Da kam ich mir vor, wie ein kleines bockiges Kind, das nicht schlafen wollte. Sie sah mir in die Augen: „Verstehst du nicht? Es ist nicht deine Entscheidung. Du bist die Auserwählte. Du kannst dich deiner Verantwortung nicht entziehen. Vor allem nicht, nachdem du endlich deine Kräfte gefunden hast. Ich habe die Gerüchte aus der Stadt gehört, ein geheimnisvolles kleines Mädchen hätte es mit drei Männern aufgenommen. Und gewonnen. Das kannst nur du gewesen sein, hab ich recht?“ Ich konnte mich meiner Verantwortung nicht entziehen, wieder wurde mir das gesagt. Und langsam fing ich an, es wirklich zu glauben. Es waren all die Leiden in der Stadt, meine Fähigkeiten, die Dinge, die ich über Penelope erfahren habe, die mich davon überzeugten, dass ich mich nichtmehr raushalten konnte. „Ja. Ich war das. Ich kann Wasser bändigen, aber ich weiß nicht wie ich es gemacht habe.“, sagte ich. "Du wirst es noch herausfinden, da bin ich mir sicher. Du hast einen starken Geist, das spürt man sofort", antwortete Lore mir mit ruhiger Stimme. Sie klang überzeugt. Ich war mir sicher, dass sie bereits einen Plan hatte. Sie sprach weiter: "Wir haben noch fünf Tage bis Penelope zurückkommt, nehme ich an. Du bist bei Nummer 4 in der Lehre, habe ich Recht?" Ich nickte zustimmend und Lore fuhr fort: "Gut, arbeitet weiter an deiner Nahkampftechnik, du wirst sie bald brauchen. Gegen Penelopes Armee werden wir es schwer haben.“ Ich dachte an Nummer 4, und da fiel mir noch eine Ungereimtheit auf: „Lore, warum raubt Penelope nur Frauen die Seele?“ Sie sah mich überrascht an: „Sie hat es dir nicht erzählt? Warum hätte sie auch? Um anderen Menschen die Seele zu rauben, muss Penelope eine Art innere Verbindung zu diesem aufbauen. Das ist nur beim gleichen Geschlecht möglich.“ Ich nickte: „Ich verstehe, aber was willst du jetzt tun? Wir können es zu zweit nicht mit den vielen tausend Seelenlosen aufnehmen.“ Lore grinste: „Wir sind keineswegs nur zu zweit. Ich habe es geschafft fast alle männlichen Krieger auf unsere Seite zu ziehen. Somit haben wir schon zwanzig gut ausgebildete Soldaten“, Lores Grinsen wurde noch größer, „es war meine Idee auch Männer in der Kriegskunst auszubilden. Ich habe Penelope glaubend gemacht, diese würden es sonst auf eigene Faust tun und sich womöglich gegen sie verbünden. Aber genau das tun sie jetzt, so spielt das Leben.“

Schweißgebadet schritt ich aus dem Kellerraum. Das ständige „Versuch es nochmal“ von Nummer 4 pochte immer noch in meinen Ohren. Zwei Tage war das Gespräch mit Lore nun schon her, bei dem sie mir ihren Plan eröffnet hatte: Fünf Tage Zeit um das Töten von Penelope zu erlernen. Anfangs hatte sich alles in mir gegen diesen schrecklichen Plan gewehrt, aber mit den Anstrengungen des Trainings verlor ich das Ziel immer mehr aus den Augen. Ich erreichte mein Gemach und ließ mich erschöpft auf mein Bett fallen. Mein Blick schweifte durch den Raum und blieb an der großen Wasserschüssel hängen, die mir Milena jeden Tag brachte. Ich würde ihre Königin töten. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Ich schloss die Augen. Doch das Bild der toten, blutüberströmten Penelope ging mir nichtmehr aus dem Kopf.

Als ich aus einem unruhigen Schlaf erwachte, brachte mir Milena gerade eine neue Schüssel Wasser. Sie erkannte, dass ich wach war und begrüßte mich fröhlich: „Guten Morgen Eyrin.“ „Ich werde Penelope töten“, kam aus meinem Mund. Hatte ich das gerade wirklich laut gesagt? Doch der verwirrte Blick von Milena ließ keine Fragen offen. „Was?“, stammelte sie. Ich stand auf und ging zu ihr hinüber. Ich hielt sie fest, weil ich Angst hatte, sie würde die Flucht ergreifen. „Milena hör mir zu, ich wollte dir das eigentlich nicht sagen. Ich kann dich nur nicht weiter anlügen. Es ist der Plan von Lore, ich vertraue ihr. Ich hab das Leid in der Stadt gesehen. Und Penelope ist schuld daran, sie raubt Menschen ihre Seele. Sie will einen Krieg beginnen. Ich darf das nicht zulassen“, versuchte ich zu erklären. Milena stand mir mit offenem Mund gegenüber. „Ja“, sagte sie dann, „was immer ihr für Richtig haltet, Prinzessin Eyrin.“ Sie drehte sich um und verließ den Raum, ließ mich stehen mit den Fragen, ob sie es verstanden hatte und ob sie auf meiner Seite war. Doch ich hatte keine Zeit um mir über diese Dinge Gedanken zu machen, Nummer 4 wartete auf mich. Also wusch ich mich, zog meine Kampfkleidung an und machte mich auf den Weg in den Speisesaal, um vor dem Training noch etwas zu essen.

Lore saß bereits am reich gedeckten Tisch. Als ich die Tür passierte, hob sie den Kopf, sah mich streng an und sagte in einem ebenso angsteinflößenden Ton: „Milena war gerade hier, sie macht sich Sorgen, du würdest unter Wahnvorstellungen leiden und Penelope töten wollen. Du weißt, dass jeder Mitwissende eine Gefährdung für dich darstellt. Ich musste sie einweihen, sonst hätte sie ihre Sorgen vermutlich auch mit Penelope selbst geteilt. Iss nun etwas und dann geh Trainieren.“ Lore stand auf und verließ hastig den Raum. So aufgebracht hatte ich sie noch nie erlebt.

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