Die Stadt

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Ich erkannte die Silhouette des jungen Mannes schon von weiten. Neben ihm standen zwei Pferde. Rasch hielt ich auf ihn zu. Er begrüßte mich mit einem nicken und schwang sich aufs Pferd. Ich tat es ihm gleich und schon galoppierten wir gen Stadt. Als die Tore der Stadtmauer in Sicht kamen, zügelten wir die Pferde. „Eyrin, “ flüsterte Atrix, „schön, dass ihr gekommen seid, ich hatte schon befürchtet es wäre ein Test.“ „Ein Test?“, fragte ich. Atrix nickte: „Ob ich die Regel brechen würde, ob ich euch in Gefahr bringen würde.“ Ich musste Grinsen. Atrix hatten die gleichen Sorgen wie mich begleitet. Dass er trotzdem gekommen war, freute mich umso mehr. „Also“, sprach Atrix weiter, „Ich bin euer Ehegatte. Wir sind Freunde der Königin und suchen eine Herberge für die Nacht. Öffnet euren Mantel ein wenig, dann kann man den kostbaren Stoff des Kleides sehen, so wirkt die Geschichte glaubwürdiger.“ Ich öffnete meinen Mantel und das weiße Kleid glänzte in der Nacht.

Als wir die Stadttore erreicht hatten, stieg Atrix vom Pferd und bedeutete mir es ihm gleichzutun. Er klopfte gegen das Tor, an einer Stelle, die sich als Fenster im Stadttor herausstellte, als ein Mann das Brett beiseiteschob. Mit einer rauen, lauten Stimme, die mich zurückweichen ließ, fragte er: „Was wollt ihr?“ Atrix hustete erst, dann antwortete er herablassend: „Wir sind Freunde des Königshauses und suchen eine Herberge für die Nacht.“ Das Brett wurde wieder vorgeschoben. Ich sah Atrix verunsichert an: „Haben sie uns durchschaut?“ Er antwortete mit einem Stirnrunzeln. Dann schlugen Zahnräder aufeinander und Ketten klapperten. Langsam schwang das alte Tor nach außen auf. Ein beißender Geruch schwang uns entgegen und brannte mir in den Augen. Atrix schwang sich auf sein Pferd, dann sah er auf mich herab: „Verhaltet euch ruhig und unauffällig.“ Ich nickte als Antwort und stieg ebenfalls auf. Als wir durch das Steintor ritten, wurde der Gestank fast unerträglich. Ich hielt mir meinen Mantel vor Nase und Mund, um ihn einzudämmen. „Das ist die Stadt, so riecht das wahre Leben. Sie werden sich schnell daran gewöhnen, Eyrin.“ Das bezweifelte ich. Eine breite Straße, die mit Laternen beleuchtet wurde, lag hinter dem Tor und führte weiter in die Stadt hinein. Das Bild, das sich mir bot, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.  Die Straße war gezeichnet von Löchern, die wohl durch die Räuberei der Steine entstanden waren. Abwasserrinnen flossen zu beiden Seiten an den Häusern vorbei, sie verbreiteten wohl den unliebsamen Gestank. In den dunklen Ecken der Seitenstraßen huschten heimlose Schatten. Fenster waren zugenagelt, Dächer waren nur halb gedeckt. An einem der Hauseingänge saß ein alter Mann, zusammengekauert, auf sein Ende wartend. Die wenigen Menschen, die die Straße kreuzten, liefen schnell, sahen auf den Boden oder nervös hinter sich. Der schreckliche Anblick fesselte mich. Ich war wirklich naiv genug gewesen zu glauben, Milena würde maßlos übertreiben. Ich hatte eine blühende Stadt erwartet, reges nächtliches treiben. Stattdessen sah ich überall Elend. Die Stadt war ein dreckiges Loch. Und ich, ich lebte in Reichtum. Langsam fing ich an zu verstehen, warum mich Penelope nie in die Stadt gelassen hatte. Sie lebte in einer heilen Welt und bekam alles was sie wollte. Wahrscheinlich hatte Penelope damit gerechnet, dass ich nicht einfach weg sehen würde. „Ich zeig euch einen fröhlicheren Ort“, riss mich Atrix aus den Gedanken. Er deutete die Straße hinunter: „So schlecht es uns hier auch geht, das Leben genießen, das können wir trotzdem.“ Er gab seinem Pferd einen Stoß mit der Ferse.

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