Lore

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Atrix lächelte erst, dann brach ein lautes Lachen aus ihm heraus. "Mit ihnen in die Stadt? Ich begeh doch keinen Selbstmord!", sagte er nach Luft ringend. Laut kämpfte ich gegen sein Lachen an: "Atrix, ich meine es ernst! Ich war noch nie dort und ich will wissen wie die Menschen dort leben. Ich möchte mal wieder mit normalen Menschen reden! Penelope ist auf Reisen, jetzt ist meine einzige Möglichkeit!" Er fing sich, seine Stirn legte sich in Falten, dann gab er mir eine Antwort mit der ich nicht gerechnet hatte: "Gut, heute Nacht. Tagsüber würdest du erkannt werden. Wir treffen uns drei Stunden nach Sonnenuntergang am Stall. Nachts in der Stadt ist man nur zu Ross sicher. Verhüllen sie ihr Gesicht, Prinzessin. Wenn sie doch jemand erkennen sollte, würde er.. passt einfach auf euch auf." "Danke", gab ich überrascht zurück. Und ich war wirklich dankbar. Auch wenn sein Verhalten für mich ein Rätsel darstellte. Erst vertraute er mir nicht, dann doch, dann wieder nicht. Mir lag viel an ihm und ich bekam langsam das Gefühl, dass er nicht nur die Prinzessin in mir sah.

 

 Als ich meine Gemächer betrat, entdeckte ich sofort die feinen weißen Kleider auf meinem Bett. Milena saß auf einem der Stühle und sprang auf, sobald sie mich erblickte. "Da bist du ja, ich hab auf dich gewartet. Dein Kampftraining hat länger gedauert, als ich gedacht hätte. Aber das ist gut, dann hast du bestimmt Hunger. Die Stellvertreterin von Penelope möchte heute Abend mit dir speisen und dich kennenlernen. Sie heißt Lore und hilft Penelope bei den innenpolitischen Angelegenheiten. Eigentlich hat sie wenig Rechte, aber Penelope nimmt sie ernst und hört manchmal auf ihren Rat." Erklärte sie, während sie mir in mein Kleid half. Meine gute Laune schwand langsam. Ich war also nicht unbeaufsichtigt. Penelope hatte dafür gesorgt, dass diese Lore mich überwachte. Der Stadtbesuch war vielleicht doch keine so gute Idee wie ich dachte. Milena fing an meine Haare hochzustecken, währenddessen ich versuchte meine Nervosität zu bekämpfen.

 

Ein wundervoller Geruch schwang mir entgegen, als ich den Speisesaal betrat. An der Tafel hatte Lore bereits Platz genommen. Als sie mich hereinkommen sah, erhob sie sich jedoch wieder. Sie war eine groß gewachsene Frau, ich weiß nicht wieso, aber ich hatte eine junge Frau, eine in Penelopes Alter erwartet, aber Lore war sicher schon über fünfzig Jahre. Ihre langen grauen Haare fielen glatt bis zu ihrer Taille. Sie trug ein weißes Kleid, das meinem sehr ähnlich war. Ihre dunklen Augen musterten mich, dann bedeutete sie mir mich zu setzten und sprach mit weicher Stimme: "Du bist also Eyrin. Schön dich endlich persönlich kennenzulernen. Penelope hat mir viel von dir erzählt. Leider hat sie mir dich nicht schon früher vorgestellt. Und gefällt dir dein neues Zuhause? Seit vier Jahren lebst du nun hier, oder irre ich mich? Wie findest du denn die Stadt?" Diese letzte Frage verunsicherte mich. Wusste sie etwa von meinem Vorhaben? Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen: "Ja, vier Jahre ist es her, dass mich Penelope aufgenommen hat. Es ist schön hier, die Gärten mag ich besonders gern. In der Stadt war ich aber leider noch nie." Lore nickte nur. Sie legte den Kopf schief und sah mich musternd an. Es war so, als würde sie nach etwas suchen, als würde sie mich abschätzen. Immer noch verunsichert fing ich an zu essen. Nach einer Weile tat Lore es mir gleich. Wir aßen schweigend. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen.

 

Als ich satt war, sah ich zu meinem Gegenüber auf. Sie hatte bereits den Blick auf mich gerichtet, dann sagte sie: "War das Essen zu deiner Zufriedenheit?“ „Ja, danke,“ antwortete ich. Lore lächelte zufrieden: „Was hältst du davon, wenn wir ab jetzt immer gemeinsam speisen?“ Ich nickte. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Ablehnen konnte ich ja schlecht, außerdem war mir Lore auf eine mütterliche Art und Weise sympathisch.

Ich saß auf meinem Bett und sah der Sonne zu, wie sich hinter die Berge verzog. Je dunkler es wurde, desto nervöser wurde ich. Hatte Atrix Penelope oder Lore eingeweiht? Was würde mir als Strafe drohen, wenn wir erwischt werden würden? Mir schossen viele Zweifel durch den Kopf. Ich musste mich ablenken, und das Einzige, was mir einfiel war zu meditieren. Ich musste sowieso für meinen Unterricht üben. Ich setzte mich auf den Boden und verschränkte meine Beine. Ich hatte nicht vor mich in meinen inneren Raum zu begeben, aber ein paar Atemübungen waren ja auch üben. Ich versuchte ruhig zu werden, jedoch ohne meine Augen zu schließen. Ich achtete darauf wie sich meine Lunge füllte und leerte und versuchte diesen Vorgang zu verlangsamen. Ich spürte mein Blut durch den Körper pulsieren und merkte, wie es langsamer und ruhiger wurde. Ich starrte auf die Wand vor mir und mein Geist wurde mehr und mehr nur von dem pulsieren meines Blutes und dem rauschen meines Atems erfüllt. Ich fühlte mich meinem Körper auf einmal näher als sonst. Es war, als könnte ich bestimmen wie schnell mein Herz schlug. Ich konnte fühlen wie die Herzklappen zuckten. So blieb ich, fasziniert von dieser Erfahrung, eine Weile in dieser Trance. Irgendwann holte ich mich mit einem Kopfschütteln in die Realität zurück. Mein Blick fiel aus dem Fenster. Es war dunkel, sehr dunkel, mitten in der Nacht musste es inzwischen sein. Schnell hüllte ich mich in einen dunklen Mantel und verließ geräuschlos das Zimmer.

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