Am nächsten Morgen wurdeich dann natürlich wieder hart von der Realität getroffen.Aufstehen, mit dem Morgengrauen und schnell eine Tasse Kaffe und eintrockenes Brötchen runterwürgen, bevor man ins Badezimmer hetzt,damit man nicht nur noch kaltes Wasser bekommt, ist doch was anderesals das gemütliche Frähstücken und spazieren gehen wie am Vortag.
Als ich abends endlich den Arbeitstag hiner mir habe, habe ichnicht mal mehr die Energie ins Schwimmbad zu gehen, obwohl meinganzer Körper sich nach Aiden sehnte. Während des gesamtenHeimweges versuchte ich mir einzureden, dass er wahrscheinlichsowieso schon wieder irgendwo auf der anderen Seite der Welt ist undmich beim Schwimmen nicht vermissen würde, aber wirklich überzeugtwar ich davon natürlich nicht. Ich wollte zu Aiden und mit ihmlachen.
Bastienne neben mir war auch schweigsamer als sonst undals sie wir schließlich nur noch ein paar Blöcke von unsererWohnung waren und sie immer noch nichts gesagt hatte, wurde ich einwenig besorgt. „Ist alles okay bei dir?", fragte ich schließlichund schaute sie von der Seite an. Sie presste ihre Lippen aufeinanderund nickte. Ihre Hände jhatte sie um das Lenkread gekrallt, so fest,dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Ich hatte Angst sieabzulenken oder zu erschrecken, deswegen berührte ich sie nicht, wieich es sonst getan hätte, sondern redete weiter mit ihr:" Was istdenn los? Ist es immer noch wegen Landon?"
Ein paar Minutenblieb sie stumm und ich dachte, dass sie meine Frage nicht gehörthatte, als sie plötzlich hörbar ausatmete und sagte: „ Ja, es istimmer noch wegen Landon. Ich kann einfach nicht aufhören daran zudenken, was passieren würde, wenn er sich wirklich trennen will. Waswird aus Rosie? Was wird aus mir? Was wird aus unserer Haus? UnsererZukunft? Ich kann ihn nicht verlieren, verstehst du Maddie?"
Ichnickte und flüsterte: „ Du wirst ihn auch nicht verlieren. Er magin der letzten Zeit vielleicht nicht immer der perfekte Partner sein,aber ihr werdet das schon wieder hinbekommen. Landon ist nicht derTyp dafür dich und Rosie zu verlassen. Ihr seid seine Zukunft. Ihrseid seine Familie und das wird er niemals einfach so wegwerfen."Und das war wahrscheinlich das erste nette, dass ich über Landongesagt hatte. Aber ich hatte damit wahrscheinlich recht. So wenig ichan Landon mochte, so musste ich ihm wenigstens zusagen, dass er treuwar und egal wie schwierig die Situation immer zu Bastienne und Rosiehielt. Er könnte sie niemals verlassen.
Trotzdem kriselte es beiden beiden mächtig weiter. Während ich mich wieder in meinen Alltageinfädelte, bekam ich mit, dass die beiden die Pause scheinbarverkürzt hatten und sich nun mächtig am Telefon stritten. Bastiennewurde immer schweigsamer und wollte mir nicht mal mehr etwas zu demaktuellen Stand ihres Streites erzählen. Also redeten wir im Autoeinfach gar nicht mehr. Ich vermisste über die Entfernung hinwegAiden und sie grübelte über ihre Zukunft und die ihres Kindes nach.Und immer wenn ich meine Schwester anschaute, sah wie sie mit denTränen kämpfte wurde mir klar, wie klein meine Probleme waren, wieunwichtig meine Gedanken und all meine Gefühle waren, wenn Bastienneso litt.
Wahrscheinlich war ich auch deshalb ganz froh, dass sichAiden eine Woche lang nicht meldete. Ich hatte keine Ahnung, wie iches mit meinem Gewissen hätte vereinbaren können, wenn Bastiennesich wieder am Telefon von Landon anschreien ließ, während icheinen wunderschönen Abend mit Aiden verbrachte.
Irgendwannmeldete sich Aiden aber natürlich doch. Er rief mich so spät abendsan, dass ich schon schlief, als mein Handy neben mir klingelte.Verschlafen fischte ich es vom Nachttisch und ging dran, ohne auf dasDisplay zu schauen: „ Ja?"
„Habe ich dich geweckt?",Aidens Stimme klang vor Erschöpfung rau, aber ich konnte trotzdemnoch ein bisschen von seinen allgegenwärtigen Schelmischen Untertonerkennen.
„Ja... Wie spät ist es bei dir?", wollte ichwissen. Ich musste einfach davon ausgehen, dass er sich in eineranderen Zeitzohne befand, weil sonst würde ich ziemlich ungemütlichwerden, wenn er mich nur aus Spaß weckte.
„Hier ist es gerade16:45. Ich habe das wirklich komplett vergessen, tut mir leid. Ichwollte einfach nur deine Stimme hören und mal fragen, ob es dir gutgeht", sagte er und sprach dann plötzlich auf einer anderenSprache weiter. Kurz darauf wandte er sich wieder an mich: „ Sorry,ich muss gleich weiter. Also, geht es dir gut?"
Verwirrt nickteich: „Ja, wieso?"
„Du hast die letzten zwei Wochen beimSchwimmen gefehlt. Bist du krank?"
„Nein, nur viel Stress beider Arbeit, wo bist du gerade?"
es dauerte eine Weile, bis ermir antwortete und als er es endlich tat, sprach er eilig undziemlich undeutlich:" Ja, mir geht's auch gut. Hör mal, ich mussweiter. Ich melde mich morgen früh, also eurer Zeit morgens, wieder.Schlaf gut."
„Du auch", erwiderte ich und schaute mein Handynoch weiter an, als er schon lange aufgelegt hatte. Mein Herz pochteviel zu schnell und ich wusste, dass ich jetzt nicht mehr einschlafenkonnte. Deswegen stand ich auf und zog meinen dicksten Pulli übermein Schlafshirt und eine Jeans statt der Jogginghose, bevor ich aufden Flur trat. Wie erwartet drangen aus dem Wohnzimmer noch einigeStimme und das Geräusch des Fernsehers. Nathan hatte ein paarFreunde von ihm und Lexie eingeladen und uns andere aus der WG auchherzlich gebeten mit ihnen ein bisschen zu feiern, aber alle hattenabgelehnt. Niemand hatte Lust sich Sonntags abends zu betrinken undJames war schon auf einer anderen Party unterwegs.
Als ichendlich vor unserem Haus stand und die kühle Londoner Nachtlufteinatmete, war ich mich nicht mehr sicher, wo ich hinwollte. Ichhatte ein klares Ziel vor Augen gehabt, dass war mir klar, aber jetztwar das alles vergessen. Trotzdem wusste ich, dass ich nicht einfachwieder zurück in die Wohnung oben wollte. Ich musste irgendwo hin,irgendetwas unternehmen. Vom plötzlichen tatendrang gepackt, machteich mich auf den Weg die Straße hinunter, bis zu einer großenKreuzung. Unendlich viele Pubs reihten sich auf dergegenüberliegenden Straßenseite aneinander und einige betrunkeneLeute stolperten auf dem Bürgersteig umher. Bald würden die Pubsschließen und unser gesamte Viertel mit den betrunkenen Leutenüberfluten. Da wollte ich auf keinen Fall hin.
Eine Weile standich regungslos vor der Kreuzung und schaute den Autos zu, wie sierasend schnell vorbei fuhren, sah, wie manche Autofahrer michanschauten oder wie manche sogar leicht abbremsten, um mich über dieStraße zu lassen. Als mir schließlich endgültig zu kalt in meinemPulli wurde, rief ich mir ein Taxi. Nach einigen Minuten hieltendlich jemand an, der mich mitnehmen wollte und ich gab ihm meinZiel durch. Die ganze Zeit über spürte ich seinen Blick auf mir undobwohl ich versuchte es zu ignorieren, konnte wandte ich michirgendwann dem Rückspiegel zu und lächelte süß: „ Allesokay?"
Der fahrer schien erst ein wenig ertappt, dann räusperteer sich: „Ja, alles okay. Ich – Ich frage mich nur, wieso sie...Ich meine im Rollstuhl sitzen."
es war auch schon vorheroffensichtlich geswesen, dass er darauf brannte mich das zu fragen.Deswegen war es nur eine Überraschung, dass ein Engländer endlichmal das aussprach, was er wirklich dachte und wirklich fragen wollte.Und obwohl ich es eigentlich gar nicht sagen wollte, ihm nicht aufseine ziemlich dreiste Frage antworten wollte, erwiderte ichschulterzuckend:" Ein Autounfall."
„Das tut mir leid",sagte der Mann und schaute mich wieder an. Einen Moment schwieg erund erkundigte sich dann weiter: „Wie lange ist das schonher?"
Diesmal beantwortete ich seine Frage nur sehr vage: „Ein paar Jahre."
Der Fahrer nickte kurz und wandte sich dannwieder der Straße zu, den Rest der Fahrt schwiegen wir. Als erschließlich anhielt drückte ich ihm ein paar Scheine in die Handund flüchtete praktisch aus dem Taxi. Das Gebäude vor dem ichangekommen war trotz der späten Stunde natrlich noch voll und hellbeleuchtet. Zum ersten Mal seit Jahren übertrat ich die Schwelle undschaute staunend hoch zur Glasdecke, durch die man den klarenSternenhimmel sehen konnte. Augenblicklich war mir klar, wieso Aidensich so sehr für seinen Job begeistern konnte. Die Atmosphäre hierwar einzigartig. Sobald ich ein paar Meter weiter in die große Hallevorgedrungen war, wurde ich von Menschen umspült. Einige rauschtenim Stress an mir vorbei, andere schlenderten überglücklich mitihren Angehörigen aus dem Gebäude heraus. Der Anblick einer kleinerFamilie, die mit ihren Koffern durch die Halle gingen, erinnerte michunwillkürlich daran, wie ich vor einigen Jahren hier ankam. Wieangsterfüllt und doch voll Vorfreude ich war. Zugleich traurig undüberglücklich dort angekommen zu sein.
Wenn ich damals schongewusst hätte, wie es mir nur 6 Jahre später gehen würde, wäreich wahrscheinlich nicht so voll Freude gewesen. Ich hätte meineFamilie angefleht wieder in die Heimat zu gehen und dort einfachweiter zu leben. Aber natürlich hatte ich damals keine Ahnung.Niemand weiß was die Zukunft einem bringt, man muss einfach lernendamit zu leben und das beste aus jedem Tag machen. Unwillkürlichmusste ich an Rosie denken. Wenn ich meine Familie dazu hättebringen können, zurück zu fliegen, hätte es sie nicht gegeben. Ichwäre keine Patentante. Bastienne wäre keine Mutter. Und unsereFamilie würde noch leben.
Ich schloss kurz die Augen, um dieErinnerung an meine Familie abzuschütteln. Doch als vor mirplötzlich das Gesicht von Didier auftaucht, wie er aufgeregt am Armmeiner Mutter zerrt, als wir gerade gelandet sind muss ich lächeln.So voller Begeisterung war eigentlich nur er, als wir nach Englandkam.
Doch ich löste mich von den Gedanken an ihn und unsereAnkunft. Ich hatte zwar kein bestimmtes Ziel, aber ich wollte auchnicht nur in meinen Erinnerungen schwelgen, die so alt und überholtwaren. Ich sollte mich auf die Gegenwart konzentrieren, sowieBastienne es mir in den ersten Monaten nach dem Unfall immer gesagthatte, bis sie selber einsehen musste, dass es mir nichts brachte.
Als ich die große Halle durchquert hatte, kam ich an teurenLäden, Sicherheitskontrollen und unzähligen Informationsschalternan. Ich fuhr an ihnen vorbei und beobachtete die Leute um mich herum.Hin und wieder erkannte ich einige Angestellte und war drauf und dransie anzuhalten, um sie nach Aiden auszufragen, doch mir war klar,dass das keinen Sinn hatte. Man kannte hier wahrscheinlich nicht alleKollegen beim Namen, so wie bei uns, man konnte die meisten einfachnicht kennen.
Ich trank einen viel zu teuren und ekelig wässrigschmeckenden Kaffe, dann erkundete ich die Halle solange, bis icheine Tür mit der Aufschrift „PERSONAL" fand. Ich wusste, dassich sie nicht betreten durfte, deswegen probierte ich es auch erstgar nicht. Stattdessen positionierte ich mich in der Nähe der Türund wartete so lange, bis jemand durch diese Tür ging, die sich nurmit Hilfe einer Chipkarte öffnen ließ. Was ich jedoch dahintererhaschen konnte, enttäuschte mich ziemlich: nur ein langer Flur warfür mich zu sehen, dann schloss sich die Tür wieder.
Also fuhrich irgendwann wieder nach Hause. Noch lange während der Taxifahrtzurück klangen die Durchsagen und das Stimmengewirr in meinen Ohrennach. Erst später wurde mir bewusst, woher das euphorische Gefühldas mich auf der Rückfahrt erfasst hatte kam: Ich hatte es alleinegeschafft. Ich war ganz alleine hin und her gefahren. Obwohl ichnichts dort gemacht hatte, außer Kaffee zu trinken hatte ich es dochalleine, ohne Bastiennes oder Lexies Hilfe geschafft.
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Learning to fly
Teen FictionAvery ist 21, lebt in London und hätte eigentlich eine aussichtsreiche Zukunft vor sich. Doch das ist lange vorbei, alles wurde ihr genommen und nur ein zurück gezogenes Leben in einer kleinen WG ist ihr geblieben. Als sie Aiden in einem Therapieze...