Gedankenverloren drehe ich eine Sanduhr in meinen Händen hin und her.
In einem Moment will ich sie voller Wut und Verzweiflung gegen die hässliche Blumentapete mir gegenüber werfen, aber im nächsten Moment, geschockt von meinen eigenen Gedanken, sie fest an mich drücken.Wie kann etwas, was Clary so sehr geliebt hatte, mir das nehmen, was ich am meisten geliebt habe?
Dann seufze ich, setze die Uhr behutsam wieder an seinen Platz und stehe auf. Die Sonne scheint durch die dünnen Gardinen, taucht das Chaos in meiner kleinen Wohnung in ein helles orange und beleuchtet die Fotorahmen auf der Fensterbank.Von einem strahlt mir das wunderschönste Gesicht entgegen, das ich je gesehen habe.
Clarys Gesicht war übersät von Sommersprossen und ich erinnere mich, wie fasziniert ich sie immer betrachtet habe, wann immer ich die Chance dazu gehabt hatte.
Ich wollte sie immer gezählt haben.
Habe es aber nie gemacht.
Und nun bereue ich es.Was ich aber nicht bereue ist, dass ich an diesen einen verregneten Montag vor Clarys Stand zum Stehen gekommen bin und sie so zum ersten Mal getroffen habe.
Damals habe ich das Taxi versäumt und musste somit ich zur Bahn laufen, doch als ich am späten Nachmittag auf dem Heimweg war und Clary dabei beobachtete, wie sie sich damit abmühte, ihre Sanduhren in Kartons zu verpacken und auf den Sattel eines klapprigen roten Fahrrads zu heben, beschloss ich etwas, was mein ganzes Leben auf den Kopf stellen sollte.
Es war der erste Tag gewesen, an dem ich Clary bei dem Abbau ihres Standes half und die schweren Kartons zwei Blöcke weiter in ihre Wohnung trug.Ich erinnere mich noch gut daran wie sie an einem Dienstagnachmittag den letzten Karton von mir entgegennahm und ihn über ihre Türschwelle schob. Mit einem Arm hat sie sich die die hellbraunen Haare aus der Stirn gewischt und sich dann gegen den Türrahmen gelehnt.
„Nun, du hilfst mir nun schon seit einer Woche mit meinen Kartons und da bei mir noch nicht eingebrochen wurde und ich auch keinerlei anderen ungewöhnlichen Geschehnisse bemerkt habe, kann ich dir ja auch guten Gewissens meinen Namen verraten."
Sie streckte mir ihre Hand entgegen. „ClaryMoyes."
Doch mit einem Grinsen schüttelte ich meinen Kopf.„Ich wusste bereits wie du heißt."
Überrascht zog sie eine Augenbraue hoch, ließ ihre Hand sinken und verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Also doch ein Spanner?"
Wieder schüttelte ich den Kopf und nickte in Richtung Klingelschild: „Nein, kein Spanner, ich habe einfach nur in der Schule aufgepasst, als wir gelernt haben, wie man Buchstaben liest."
Ihre Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen.
„Okay, Liam Payne, dann sind wir quitt. Wobei ich hingegen drei Abende damit verbracht habe, dein Facebook Profil zu suchen und dies allein anhand deines Profilbild schlussendlich gefunden habe."
Es war ein Dienstagabend, an dem wir unser erstes Date hatten.
Sie lud mich in ihre kleine Wohnung ein und ich durfte feststellen, dass sie eine miserable Köchin war.
Aber gleichzeitig durfte ich auch all die kleinen wunderbaren Kleinigkeiten an ihr kennenlernen.
Dass sie vernarrt in Sanduhren war, so sehr, dass sie diese sogar als Küchentimer benutzte und somit nicht nur einmal die Nudeln verkochen ließ.
Dass sich selbst neben der Toilette Bücher über Quantenphysik und der Relativitätstheorie stapelten und ich voller Fragezeichen in meinen Kopf in ihnen blätterte, während ich auf dem Pott saß.
Dass sie ihre völlig launischen Katzen nach toten Berühmtheiten benannt hatte und ich somit nicht wusste, ob ich es amüsant oder einfach nur schmerzhaft finden sollte, als mir Elvis Presley höchstpersönlich seine Krallen in das Fleisch schlug und Marilyn Monroe zusammen mit John Lennon die Situation einfach nur aufmerksam von der Kommode zwischen zwei Sanduhren aus beobachteten.
Dass sie nicht nur einmal, sondern gleich dreimal hintereinander niesen musste.
Dass sie die Nase kraus zog, wenn sie nachdachte.Und dass sie mich dazu brachte, den Sand in unserer persönlichen Sanduhr auffangen zu wollen.
~
(07.02.2017)
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Wie die Zeit in einer Sanduhr
Short StoryClary hat bei unserem ersten Treffen gesagt, dass man sich manchmal für das Leben Zeit nehmen muss. Doch nun war alles, was ich will, die Zeit zurück drehen, die Welt anhalten zu können und die Sanduhr wieder umzudrehen. Doch es bleibt immer gle...