„Das geht aufs Haus."
Sie stellt vor meine Nase einen Teller mit zwei Sandwiches hin.
Ich habe jedoch keinen Hunger.
Ich habe nie Hunger.„Danke", sage ich trotzdem, greife dann jedoch aber über den Teller hinweg zu der Kaffeetasse.
Die Frau beobachtet mich weiter, streicht sich einmal über die altmodisch aussehende Schürze und entgegnet dann: „Und dennoch isst du sie nicht. Warum nicht?"„Wie ist dein Name?", entgegne ich, ohne bisher auf ihre Frage einzugehen.
Ohne sich davon irritieren zu lassen, antwortet sie: „Sophia."„Nun, Sophia", beginne ich dann und lehne mich etwas weiter vor: „ich esse sie nicht, weil ich kein Hungergefühl mehr verspüre. Und als ich dies realisiert habe, ist mir klar geworden, wie unsere Gefühle uns austricksen können. In einem Moment lassen sie einen den größten Berg erklimmen und voller Freude einen Schrei ausstoßen, der von zwei, drei Echos verfolgt wird, nur im nächsten Moment zu stolpern und noch tiefer zu fallen, als das man es für möglich gehalten hätte."
Mein Blick bohrt sich in ihren und ich sehe in ihren Augen, dass sie versteht, worauf ich hinaus will. „Und das Leben ist wie ein Schrei, den man ausstößt, wenn man ganz oben auf diesem Berg angekommen ist. Ein Schrei voller Freude, voller Liebe und doch wird einem erst zu spät klar, dass man zu seinen Füßen scharfkantige Steine hat und keinen Strand, voller warmer Sand."
„Und was wäre, wenn dein Fall auf einem Sandstrand endet?" Ihre Stimme ist leise, doch ich verstehe sie dennoch mehr als deutlich und leicht lege ich meinen Kopf schief.
Denn so einfach geht es nicht.
So einfach ist es nicht gegangen.
Und wird es nie gehen.
Man kann die Sanduhr des Lebens nicht austricksen.„Und selbst wenn der Fall auf einem Strand voller Milliarden von Sandkörnern: Es wäre ein einsames Exil, wie eine andere Dimension, die sie nie wieder erreichen könnte."
Ich hole einmal tief Luft.
„Denn als ihre Sanduhr zerbrochen ist, wurde sie auch zeitgleich aus meiner ausgesperrt. Und unsere Sanduhr hat einfach aufgehört zu existieren."
Es war ein Freitag gewesen, an dem ich Clary zum ersten Mal weinen gesehen habe.
Sie war nicht an ihrem Stand nach der Arbeit gewesen.
Und als ich dann ihre Wohnung mit dem Zweitschlüssel aufschloss, den sie mir schon vor einigen Wochen überlassen hatte, konnte ich es bereits im Flur hören.Schritt für Schritt näherte ich mich langsam dem Wohnzimmer.
Mein Herz klopfte wie verrückt und als ich schließlich im Türrahmen stand und sie sah, blieb mein Herz stehen.Und zerbrach.
Clary hockte mich angewinkelten Beinen auf ihrer Couch, eine Wolldecke über ihren Unterkörper ausgebreitet und sie heulte in die Ärmel ihres ausgeleierten Schlafshirts.
„Clary?" Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und in diesem Moment wusste ich, dass auch dieser Freitag nicht der passende Moment sein würde.
Sie sollte vor Freude weinen.
Und nicht aus Traurigkeit.Was hier definitiv der Fall war.
Langsam hob sie ihren Kopf und ich konnte erkennen, dass ihre Augen bereits rot angeschwollen waren. Sie weinte nicht erst seit ein paar Minuten.„Liam, ich..." Sie schniefte, wischte sich schnell über das Gesicht und drehte sich dann weg. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass sie nicht wollte, dass ich sie so sehe.
Und ich mir überkam es kalt, als ich darüber nachdachte, wie oft sie vielleicht schon heimlich hier gesessen und sich die Augen ausgeheult hatte.Es war, als würde jemand einen Schalter in meinen Kopf umlegen und mich aus meiner Erstarrung lösen. Ich ließ meine Tasche fallen und war mit zwei großen Schritten bei ihr.
Ich zog sie in meine Arme, ignorierte ihre zaghaften Abwehrversuche und hielt sie so lange, bis sie diese aufgab und sich gegen mich lehnte.
Ich umschlang ihren Rücken mit meinen Armen, während ich hilflos versuchte zu verstehen, was los war.Ich kannte Clary nun schon so lange – seit diesem einen verregneten Montag – und doch entdeckte ich jeden Tag neue Kleinigkeiten an ihr. Doch genau diese Kleinigkeit, dass Clary eben nicht nur das glücklich beschwingte, philosophische und Sanduhrenverliebte Mädchen ist, wollte ich nicht wahr haben.
„Clary?"
Keine Antwort.
Dafür spürte ich ihr schnell schlagendes Herz und ihre hastigen Atemzügen. Alle paar Sekunden zog sie ihre Nase hoch.
In diesem Moment beschloss ich, dass es Zeichen genug war, dass ich sie in meinen Armen halten durfte. Irgendwann würde sie mir verraten, was passiert war. Und dann könnte ich ihr so helfen, wie ich es wollte.
Doch jetzt musste ich einfach nur für sie da sein.
Ich zog sie noch etwas näher an mich und flüsterte ihr ins Ohr: „Egal, was es ist, Clary. Ich bin hier und wir werden zusammen eine Lösung für das Problem finden. Ich bin hier."Sie fing sich zu beruhigen.
Ihr Körper entspannte sich allmählich.Leicht strich ich ihr über die Haare und atmete tief ihr leichtes Parfüm ein.
Doch es roch etwas anders.
So, als würden die Tränen einen Duft ausströmen, der alles niederzudrücken versuchte.„Ich bin da, Clary."
Ich schloss meine Augen und so verblieben wird den ganzen Freitagabend.
Sie lag in meinen Armen, still.
Bis sie irgendwann aufstand, sich ein zweites Mal über das Gesicht strich, ein Lächeln aufsetzte und meinte: „Tut mir Leid, Liam. Wollen wir einen Film schauen?"An diesen Freitag habe ich mir selbst befohlen, ihr den Raum und die Zeit zu geben, die sie brauchte. Ich habe fest daran geglaubt, dass sie es mir irgendwann erzählen würde.
Ich war so naiv.
So, so, so naiv.Denn Clary hatte nicht die Zeit bekommen, die sie gebraucht hätte.
Sie hatte längst nicht mehr so viele Sandkörner in ihrer Sanduhr, wie ich es zu diesem Zeitpunkt angenommen hatte.
Ihre Sanduhr war abgelaufen, bevor sie mir erzählen konnte, warum sie an diesen Freitag geweint hatte.
Und nun würde ich es nie erfahren.~
(11.02.2017)
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Wie die Zeit in einer Sanduhr
Storie breviClary hat bei unserem ersten Treffen gesagt, dass man sich manchmal für das Leben Zeit nehmen muss. Doch nun war alles, was ich will, die Zeit zurück drehen, die Welt anhalten zu können und die Sanduhr wieder umzudrehen. Doch es bleibt immer gle...