Halb volle Sanduhr

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Ich stelle die Sanduhr, die ich heute Morgen noch gegen die Wand werfen wollte, auf den Tisch.
Ich beobachte den Sand dabei, wie er Korn für Korn in die Tiefe rieselt und schenke der älteren Dame keinerlei Beachtung, als sie mir den bestellten Kaffee vor die Nase stellt.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich allerdings, wie sie das Schauspiel nicht aus den Augen lässt und dabei das Gesicht nachdenklich verzieht.

Genau in dem Moment als die Hälfte des Sandes bereits auf die andere Seite verschwunden ist, lege ich die Sanduhr waagerecht hin.
Es bewegt sich kein einziges Sandkörnchen mehr.
Beide Hälften sind halb voll.
Ich wünsche, ich hätte dies bereits früher gekonnt: Unsere Zeit anzuhalten und in beide Seiten der Kolben zu sperren.

Der Kaffee wird kalt und als die Mitarbeiterin des Diners zum Nachschenken wieder kommt, setzt sie die Kaffeekanne ab und lässt sich auf den Platz mir gegenüber nieder.

„Was ist das?", fragt sie und ohne sie anzusehen, antworte ich: „Der Inbegriff meines Lebens."

Lange Zeit bleibt es zwischen uns still und so ist es auch besser. Ich bin nur auf der Durchreise, ich habe nicht mehr viel Zeit.

Vorsichtig streiche ich über die gläsernen Kolben der Uhr.

„Wissen Sie, manchmal findet man die Liebe so schwer, weil man sich fürchtet, sie zu verlieren. Und genau deswegen kann man sie später nicht loslassen."

Ruckartig hebe ich meinen Kopf und starre in das Gesicht der Frau. Ihre braunen Augen sind auf mich gerichtet, doch sie hat keinerlei Ahnung.

Sie hat keinerlei Ahnung von irgendetwas.

Denn ich habe die Liebe auf einem Montag gefunden.
Sie an einem Dienstag erkannt.
Und bin ihr an einem Mittwoch bedingungslos verfallen.

Denn es war die Mitte der Woche gewesen, als ich zum ersten Mal die bedeutungsvollen drei Wörter ausgesprochen habe, die mir eigentlich schon an diesen einen verregneten Montag klar gewesen waren.
Es war ein Sommertag gewesen und ich schob Clarys Fahrrad zwischen uns her, während sie ihre Haare zu einen losen Zopf flocht und dabei leise vor sich hin summte.
Es war schon zur Tradition zwischen uns geworden, dass ich sie bei ihrem Stand nach der Arbeit abholte und nach Hause begleitete.
Ich genoss jede einzelne Sekunde, die ich in Clarys Nähe verbringen durfte und fragte mich noch immer, wie es jemand so wunderbares auf der Welt geben konnte.

Wir gingen gerade schweigend durch den kleinen Park, der eine Abkürzung zu ihrem Block darstellte, als sie mich dabei erwischte, wie ich sie von der Seite aus anstarrte.

„Na, was ist los, Mr. Payne?"
Ihr Gesicht wurde von der bereits tief stehenden Sonne in ein goldenes Licht getaucht und wie so oft verlor ich mich in der unvollkommenen Schönheit ihres Lächelns.

Und in diesem Moment raubte mir ihr Anblick den Atem, drückte mir auf die Brust und machte mir unverständlich klar, dass ich nicht einen Tag länger damit warten konnte.
Ruckartig blieb ich stehen, Clary tat es mir gleich und legte fragend ihren Kopf schief, während sie ihre Arme in die Taschen ihrer weiten Jeansjacke stopfte.
Verdammt.
Verdammt.
Verdammt.

„Ich liebe dich."

Ich keuchte die Wörter eher, so als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Aber gleichzeitig wich dem Druck auf meiner Brust ein unbeschreibliches Gefühl von Leichtigkeit.
Wie gut es sich anfühlte, es auszusprechen.
Es war, als wäre es das Reinste, das Wahrste, was jemals meine Lippen verlassen hatte.
Denn ich liebte Clary Moyes vom ganzen Herzen.

Ihr Lächeln wurde noch etwas breiter und augenblicklich machte mein Herz einen Hüpfer.

„Okay."

Okay?

Bevor ich richtig verstand, was ihre Worte bedeuteten, beugte sie sich über das Fahrrad, das immer noch zwischen uns stand, hinweg. Ihre Lippen berührten meine und ab diesem Moment konnte ich überhaupt nicht mehr denken.
Alles, was jetzt nur noch zählte, war Clary.
Das Mädchen, das ich liebte.
Das Mädchen, das so unglaublich weiche Lippen besaß,
Das Mädchen, deren nach Shampoo riechenden Haare mein Gesicht kitzelten.
Das Mädchen, das in den Kuss hinein lächelte und mit einem Arm meinen Nacken umschlang.

Wir bemerkten kaum, wie der Karton mit den Sanduhren vom Gepäckträger rutschte, da ich das Fahrrad losgelassen hatte, um Clarys Gesicht noch näher an meines ziehen zu können.

Wir ließen es sogar unbeachtet, als einige der Sanduhren auf dem Boden zerbrachen und sich der Sand zu unseren Füßen ergoss.
Denn wir hatten einzig und allein Augen für einander.

Im Nachhinein betrachtet war dies ein Fehler.
Ich war so verliebt in dieses eine junge Frau gewesen.
In diese eine für mich, dass ich blind vor Glück nicht gesehen hatte, dass sie mir schon wieder entglitt, bevor ich sie überhaupt richtig zu fassen bekommen hatte.

Es war ein Mittwoch, an dem wir zusammengekommen waren.
Es war ein Mittwoch, an dem ich abends nicht nach Hause gegangen bin.
Und es war ein Mittwoch, an dem die zerbrochenen Sanduhren uns davor warnten, dass unsere Zeit bereits am Ablaufen war.

~

(08.02.2017)


Wie die Zeit in einer SanduhrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt