Leere Sanduhr

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Ich weiß genau, wie viel Zeit mir bleibt.
Wie lange es dauert, bis das letzte Sandkörnchen in der Sanduhr, die ich im Diner zurückgelassen habe, gefallen ist.

Drei Minuten.
Und der Platz ist nicht so weit entfernt.
Ich komme nur langsam voran, all die Jahre haben mir die Kraft aus den Beinen gezogen, doch dennoch werde ich pünktlich da sein.

Das Diner liegt nämlich genau gegenüber.

Zwei Minuten.

Ich überquere die Straße vorsichtig und als ein Mädchen, das mich so sehr an Clary erinnert, mir ihre Hilfe anbietet, winke ich nur ab.
Ich schaffe dies alleine.

Eine Minute.

Ich komme an und hebe meinen Blick, um an dem gemauerten Gebäude hochzusehen, in dem ich damals gewohnt hatte.
Ich blinzle und muss schützend meine Hand gegen die Stirn halten, um gegen die Sonne etwas sehen zu können.
Trotz all der Jahre erscheint mir das Gebäude noch immer gleich.

Dreißig Sekunden.

Mein Blick schweift zu der Stelle, an der damals ihr Stand aufgebaut gewesen war.
Ich stutze als ich eine Frau in den Anfängen ihrer Zwanziger sehe, wie sie an genau dieser Stelle abgenutzte Bücher verkauft.

Zwanzig Sekunden

Ich will zu ihr hingehen, ihr sagen, dass dies Clarys Platz ist und auch für immer bleiben würde, doch dann fiel mir der junge Mann auf, wie er ein Buch in den Händen hin und her dreht, das Gespräch mit der brünetten Verkäuferin jedoch offensichtlich vorzieht.
Er hängt an ihren Lippen, lächelt, wenn sie ausschweifende Armbewegungen macht, um das Gesagte zu unterstreichen.

Sie erinnern mich an Clary und mich.
Auch wenn ihre Geschichte erst heute, fünfzig Jahre nach unserer, beginnen würde.
Ich hoffe nur, dass ihre Sanduhr nicht so schnell abläuft wie unsere.

Zehn Sekunden.
Ich lehne mich an die Stelle, an der ihr rotes Fahrrad damals immer gelehnt hatte.
Neun Sekunden.
Vor genau fünfzig Jahren sind wir an einem Mittwoch zusammengekommen.
Acht Sekunden.
Und vor genau siebenundvierzig Jahren ist sie gestorben.
Sieben Sekunden.
Ich beobachte die Menschen, die an mir vorbei hetzen. Sie bemerken mich, den alten Mann, der gegen der Wand lehnt, oder den Bücherstand mit dem jungen Pärchen nicht. Ich erinnere mich an Clarys Worte, dass man sich manchmal einfach die Zeit für das Leben nehmen muss.
Sechs Sekunden.
Ich lächle und schüttle meinen Kopf.
Fünf Sekunden.
Wer hätte gedacht, dass ich nach so langer Zeit noch so sehr an diesem Mädchen hängen würde?
Vier Sekunden.
Wir hatten nur drei Jahre zusammen gehabt. Aber die letzten siebenundvierzig Jahre habe ich nur an sie gedacht.
Drei Sekunden.
Wenn ich meine Augen schließe, dann sehe ich sie glasklar vor mir. So als wäre sie nie weggewesen. So, als hätte ich sie eben gerade zum letzten Mal gesehen.
Zwei Sekunden.
Und ich liebe sie noch immer. Ich habe nur sie die letzten fünfzig Jahre geliebt.
Eine Sekunde.
Doch manchmal wünsche ich mir, ich könnte meine Gefühle für Clary so schnell verlieren, wie ich sie verloren habe.

Null Sekunden.
Die Zeit ist abgelaufen.
Das letzte Sandkorn ist gefallen.

Ich schließe meine Augen und atme einmal tief ein.
Heute hat die Sanduhr ihren Dienst erfüllt.
Das letzte Sandkorn in dieser Uhr sollte vor siebenundvierzig Jahren fallen und doch ist es damals nicht dazu gekommen.

Doch heute ist es soweit.
Ich stelle mir vor, wie Sophia an diesem Tisch sitzt und auf die Sanduhr starrt, die ihr Geheimnis offenbart hat.
Wie der Sand nach und nach in den unteren Kolben verschwunden ist.
Wie zuerst nur etwas Silbernes aufgeblitzt ist.
Wie es immer und immer deutlicher wurde.

Wie die Zeit in einer SanduhrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt