Halb leere Sanduhr

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Obwohl ich eigentlich schon längst hätte weiter gehen müssen, sitze ich noch immer in diesem kleinen Diner.
Clary hat es geliebt, hier zu frühstücken, bevor sie ihren Stand aufgebaut hatte.
Und so oft wollte sie mich bereits mitgenommen haben, doch wir hatten es nie geschafft.
Und nun würden wir auch nie gemeinsam hier sitzen können.

„Wollen Sie etwas essen? Ich habe gerade eben erst frische Bagels gemacht."

Ich antworte nicht, sondern starre weiter auf die waagerechte Sanduhr und versuche meine Gedanken zu ordnen.

„Oder vielleicht etwas anderes? Wir haben auch Sandwiches und verschiedene Quarkvarianten."

Langsam hebe ich meinen Kopf und mein Blick trifft auf den der Angestellten des Diners.
Dann, ohne ein Wort zu verlieren, stehe ich auf und greife nach meiner Jacke.
Aufmerksam sieht sie mir dabei zu, wie ich erst in den einen, dann in den anderen Ärmel schlüpfe.

Gerade als ich nach der Sanduhr greifen will, lässt mich ihre Stimme erstarren: „Ich erinnere mich an sie. Sie kam oft hier her und nahm einen Bagel mit Schmierkäse für unterwegs. Den Kaffee trank sie schwarz mit-"

„-mit zwei Würfel Zucker und einer Löffelspitze Milch. Nicht mehr, nicht weniger", bringe ich ihren Satz zu Ende und lasse langsam meine Hand wieder sinken.

„Wie war noch einmal ihr Name?"

Es kommt mir so surreal vor, wie ich hier vor einem alten Tisch in einem schäbigen Diner stehe und die blonde, ältere Frau zu mir herauf sieht.
Ihre Augen lassen meine nicht los und mit einem Blick weiß ich, dass sie die Antwort auf ihre Frage immer noch ganz genau weiß.
Aber dennoch erwidere ich monoton: „Ihr Name war Clary. Sie hieß Clary Moyes und kam jeden Donnerstagmorgen hier her."

Die Frau fängt leicht an zu lächeln und zeigt dann auf den Platz ihr gegenüber. Ich weiß nicht genau warum ich es tue, aber langsam lasse ich mich wieder auf den Platz gleiten.

„Ich habe ihr damals eine ihrer Sanduhren abgekauft. Ich erinnere mich so gut daran, da sie für jede einzelne eine ganz eigene Geschichte hatte."

Leicht legt sie den Kopf schief und ich bemerke, wie ihr Blick zu der Sanduhr, die zwischen uns liegt, wandert, bevor sie mich wieder ansieht. „Verrätst du mir, was die Geschichte deiner Sanduhr ist? Warum ist sie ausgerechnet halb voll?"

Ich reiße mich von ihren Augen los und presse meine Lippen zu einem Strich zusammen. Überall anders starre ich hin, nur will ich nicht wieder ihren Blick treffen.
Abgeblätterte Farbe an der Wand, wackelige Stühle, geflickte Polster, Kaffeemaschinen aus dem letzten Jahrzehnt. Alles fühlt sich nach Vergangenem an und vielleicht hat es mich genau deswegen genau in dieses Lieblingsdiner von Clary getrieben.

„Die Sanduhr ist nicht halb voll." Schlussendlich stelle ich mich doch wieder ihren wachsamen Augen. „Sie ist bereits halb leer."

Leicht legt sie ihren Kopf schief und fährt mit ihren Armen über ihre Unterarme. „Und was passiert, wenn die Zeit komplett abläuft?"

Meine Hände verkrampfen sich und ich muss mich dazu zwingen, nicht in den Erinnerungen zu versinken.

„Das wird nicht geschehen. Nicht bei dieser Sanduhr."

„Und warum nicht?" Ihre Stimme ist sanft. Nicht so lieblich wie sie von Clary gewesen ist, aber sie bringt mich dazu, die nächsten Worte auszusprechen, obwohl ich meine gesamte Vergangenheit tief in mir verschlossen habe.

„Clary hat Ihnen erzählt, dass jede Sanduhr ihre eigene Geschichte zu erzählen hat. Bevor diese ihre Entblößen konnte, wurde unsere persönliche Sanduhr bereits zerstört."

Mein Blick schweift zu einem der hinteren Tische. Ich bin der einzige Gast in diesem alten Diner, doch vor meinem inneren Auge erscheint Clary, wie sie mit einem hochgebundenen Zopf, enger Latzhose und geringelten Langarmshirt an einen der bunten Tische sitzt und gedankenverloren in ihrem Kaffee rührt, während sie weiter über das Leben philosophiert.

Ich schüttle meinen Kopf und sofort verblasst Clary.
Meine Welt wird wieder trist und grau.
So wie ich es schon seit langer Zeit gewöhnt bin.

„An einem Donnerstag habe ich es beschlossen, aber ich bin zu spät gewesen. Diese Sanduhr, die nur ein kleiner Teil von dem großen Ganzen ist, was dieses Universum ins Rollen bringt, wird für immer halb leer bleiben."

Wir haben viele Donnerstage miteinander verbracht, bis es zu diesem Donnerstag gekommen war.
Gleich nach der Arbeit habe ich mir Clary geschnappt und während sie lachend immer wieder nachfragte, was ich vorhatte, lächelte ich nur still in mich hinein.
„Wir gehen nicht wirklich auf den Freimarkt, oder?", rief Clary aufgeregt, als man bereits die Lichter von weitem erkennen konnte. Genauso fingen ihre Augen an zu glitzern. In solchen Momenten verlor ich mehr und mehr meines Herzens an ihr.

„Nein, eigentlich nicht, aber wir haben noch etwas Zeit... Wenn du also willst, bin ich dir ein treuer Begleiter bei jeglichen Achterbahnen."

Ihre beinahe kindliche Freude war ansteckend und selbst als mir die Ohren abfielen, weil sie in der Loopingachterbahn in ungeheuerliche Lautstärke um ihr Leben schrie, gleichzeitig jedoch auch lachte, wollte ich diese Momente um nichts in der Welt missen.
Wir schlenderten Hand in Hand durch die Massen, kauften Zuckerwatte und während sie Stück für Stück der klebrigen rosa Masse in ihren Mund schob, beobachtete sie die Umgebung.

„Schau, Liam. Die beiden werden unglaublich glücklich werden. Süß wie zaghaft die beiden noch sind, oder?" Sie hob ihre Hand, die meine umschlungen hielt und zeigte auf ein junges Teenagerpaar, das jedoch nicht die Augen von dem jeweils anderen lassen konnte.

„Und woher weißt du das?", fragte ich schmunzelnd nach und ließ Clary nicht aus den Augen. Sie blickte über ihre Schulter, um das junge Pärchen nicht aus den Augen zu verlieren und drehte sich erst wieder lächelnd zu mir um, als dieses in der Masse der Besucher unterging.
Bevor ich reagieren konnte, hatte sie mir Zuckerwatte auf die Nase geschmiert und gemeint: „Weil sie mich an uns beide erinnern. Sie haben noch einen ganzen Sandberg vor sich und jedes einzelne Sandkörnchen wird eine wunderbare Erinnerung werden. Und wenn sie alt und grau im Schaukelstuhl nebeneinander sitzen und merken, dass das letzte Sandkorn bald fallen wird, werden sie wissen, dass sie ihre persönliche Sanduhr gut genutzt haben. Sie haben die Zeit ausgelebt und können dann friedlich Abschied nehmen, da sie wissen, dass sie die Zeit nicht aufhalten können. Das letzte Sandkorn wird immer seinen Weg zwischen den Fingern hindurch finden."

Ich rächte mich, indem ich ihr rosa Zuckerwatte auf die Lippen drückte. Dann beugte mich vor und tat so, als wollte ich sie küssen, doch kurz bevor meine Lippen auf ihre trafen, verharrte ich.
Mein Herz machte immer noch einen Hüpfer, wenn ich mit ansehen konnte, wie Clary auf mich reagierte. Automatisch hatte auch sie sich vorgebeugt, leicht die Lippen geöffnet und wartete nur auf den Kuss. Die laute, fröhliche Freimarkt-Musik schien leiser zu werden und auch die Menschenmenge und die vielen blinkenden Lichter um uns herum, rückten in den Hintergrund.
Das einzige, was jetzt noch zählte, war Clary.
Statt sie zu küssen, fragte ich sie leise: „Redest du von dem jungen verliebten Pärchen oder von uns, Clary?"

Ihre Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln und auch wenn ihre Antwort unscheinbar ausfiel, erkannte ich die Antwort in ihren Augen: „Sind wir denn nicht auch noch ein junges verliebtes Pärchen, Liam? Und nun küss mich endlich!"

Und das tat ich.
Denn ich war naiv zu glauben, dass Clarys Vorstellungen stimmen würden.
Dass wir noch gemeinsam einen riesigen Sandberg vor uns hatten.
Dass wir jedes einzelne Sandkorn mit einer Erinnerung füllen konnten.
Dass wir alt und grau nebeneinander sitzen würden.
Dass wir einfach noch mehr Zeit hatten.

Dieser Donnerstag war der erste Anlauf gewesen.
Doch weil ich gedacht hatte, dass wir zu unseren Füßen einen ganzen Strand voller Sand hätten, habe ich es verschoben. Auf den nächsten, perfekten Tag.

Es war naiv und dumm.
Es war ein Fehler.
Denn wie es sich herausstellen sollte, gab es zwar einen ganzen Sandberg.
Aber er war nicht für Clary bestimmt.
Und auch nicht für uns beide.

Sondern nur für mich.    

~

(09.02.2017)


Wie die Zeit in einer SanduhrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt