Letztes Sandkorn in der Sanduhr

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„Ich muss jetzt gehen."

Langsam stehe ich auf und greife nach meinen Schal, der halb vom Stuhl gerutscht ist.

„Soll ich dir die Sandwiches für unterwegs einpacken?", fragt Sophia und faltet ihre Hände in einander. Sie sitzt immer noch auf ihren Platz und ich zögere.
Will ich die Sandwiches mitnehmen so wie es Clary früher immer gemacht hatte.
Ich schlucke und schüttle dann vorsichtig den Kopf.

„Nein, danke Sophia. Ich habe es eilig."

„Wo musst du denn noch hin?"

Ich wickle den Schal um meinen Hals und mein Blick wandert zu dem Platz, wo ich vorhin mir eingebildet habe, Clary sitzen zu sehen. Er ist nun leer.
Natürlich ist er leer.
Denn Clary ist schon seit langer Zeit tot.

„An den Ort, wo das erste Sandkorn gefallen ist", antworte ich nur.
Sophia legt leicht ihren Kopf schief und Strähnen ihrer braunen welligen Haare fallen über ihre Schulter. Clarys Haare waren ähnlich. Nur einen Tick heller und zerzauster.
In meinen Jackentaschen suche ich gerade nach ein bisschen Kleingeld, als Sophia die Stille unterbricht: „Du weißt, dass es Clarys Stand nicht mehr gibt, oder?"

Ich erstarre.
Sie hat die Bedeutung hinter meinen Worten herausgefunden.
Ich muss schlucken und für ein paar Sekunden meine Augen schließen.
Dann atme ich einmal tief ein und entgegne: „Das weiß ich, Sophia."
Meine Stimme klingt so unfassbar rau und auch bei meinen nächsten Wörtern, die eigentlich wütend sein sollen, ist es nicht besser: „Wie kommst du darauf, dass ich es nicht wissen könnte?" Nun hebe ich meinen Kopf. „Ich bin jeden Tag an diesem Stand vorbeigelaufen, jeden verdammten Tag, all die Wochen, Monate, Jahre. Ich habe Clary immer nach der Arbeit abgeholt, bis auf...", ich stocke und ich kann an Sophias Augen erkennen, dass sie weiß, was ich eigentlich sagen wollte. Ich räuspere mich und spreche um einiges leiser weiter: „Als Clary an diesem Sonntag gestorben ist, ist auch ihr Stand gestorben. Ich bin noch Wochen nach diesem Sonntag an der Stelle vorbeigelaufen, wo früher der Stand gewesen war, aber der schlimmste Moment war, als ich an einem verregneten Montag, vier Wochen nach ihrem Tod, an genau der Stelle, wo sie mich zum ersten Mal angesprochen hatte, nach einem Taxi Ausschau gehalten habe. Weißt du was passiert ist?"

Mein Blick bohrt sich in Sophias und ich presse so stark meine Zähne zusammen, dass mein Kiefer anfängt weh zu tun. Doch dies ist mir egal.
Mir ist alles egal bis auf Clary.

Ohne auf eine Antwort zu warten, erzähle ich weiter: „Ich wurde mit all den Erinnerungen konfrontiert. Ich stand für drei Stunden im Regen und habe auf die Stelle gestarrt, an dem immer ihr kleine Verkaufsfläche mit den Sanduhren gestanden, wo ihr rotes klappriges Fahrrad an der gemauerten Wand gelehnt und wo sie gesessen hatte. Ich wurde daran erinnert, dass ich sie an einem verregneten Montag zum ersten Mal bewusst bemerkt habe und dies der Beginn eines wunderbaren Lebens war, was ich an einen sonnigen Sonntag wieder verloren habe."

Ich muss mich ein weiteres Mal räuspern. „Verdammt nochmal! Sie ist an einem Sonntag gestorben, an unserem Sonntag. Und die Sonne hat geschienen, aber nicht für Clary."

Ich unterbreche den Blickkontakt zu Sophia und berühre einmal ganz sanft die Sanduhr auf dem Tisch. Sie liegt noch immer in der Waagerechte.
„Denn Clary wollte leben..."
Ich umgreife den filigranen Glaskörper der Uhr und stelle sie wieder richtig hin.
„...doch sie durfte es nicht."

Der Sand fängt wieder an langsam von dem einen in den anderen Kolben zu rieseln.
Im nächsten Moment finde ich ein paar Münzen in meiner Jackentasche und lege sie auf den Tisch. Leicht nicke ich Sophia zu und drehe mich dann zu der Tür um.

Wie die Zeit in einer SanduhrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt