Das Urteil

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Ein fernes, nervenzerreißendes Stampfen, wie von gewaltigen Hämmern, dröhnte durch seinen Schädel, während seine Augen wild umherblickten, in dem Versuch die ungewohnte Umgebung zu erfassen und zu begreifen. Er versuchte Arme, Beine und seinen Kopf zu bewegen, doch schnell stellte er fest, dass dies eine Unmöglichkeit darstellte, da sein stehender Körper an einem Gerüst festgeschnallt zu sein schien. Die Riemen waren eng an seinen Körper gepresst und schnitten wie Draht. Blutete er? Tat irgendwas außer seinem beschissenem Kopf weh? Wie kam er hierher? Wer war dafür verantwortlich? Was hatte er getan? Die Fragen zogen Kreise um Kreise in seinen Verstand und der Schmerz hinter seiner schwitzenden Stirn verstärkte sich.

Ein Mann in einer dunkelblauen Uniform erschien plötzlich in seinem Gesichtsfeld . Er lief mit eiligen Schritten vorbei und beachtete den Gefesselten nicht weiter. Dennoch rief er in Verzweiflung aus, bevor der Fremde wieder aus seinem Sichtfeld verschwand.

»Hey! Hey Kumpel! Hey, wo bin ich? Was soll dieser ganzer Scheiß?« Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen und die Wörter kamen nur stockend heraus.

»Du bist im Gericht«, war die tonlose Antwort mit einem dazu passenden, nichtssagenden Gesicht.

»Ich bin im Gericht?«

»Ja, du bist im Gericht.«

»Wieso?«

»Du bist ein Häftling.«

»Ich bin ein Häftling?«, wiederholte der Häftling wie ein kaputtes Aufnahmegerät und den Moment der Verwirrung nutzend ging der Wärter weiter und kümmerte sich nicht mehr um ihn. »Hey! Du Bastard! Hau nicht ab! Verpiss dich nicht einfach so! Was habe ich getan? Wieso bin in diesem verschissenen Gerichtsgebäude?«

Er zerrte weiter an seinen Fesseln und seine sich ständig bewegenden Augen begannen nun näher die Umgebung aufzunehmen. Er befand sich in einem kahlen, grauen Gang mit Rohrleitungen, die an der Decke entlangführten. Es war nicht abzuschätzen, ob er sich hundert Stockwerke über oder hundert Stockwerke unter der Erde befand, da es keine Fenster gab. Allerdings war dies für ihn momentan sowieso zweitranging.

»Kann einer von euch Pissern mir mal sagen, was hier los ist«, kreischte er weiter. »Was habe ich verbrochen?«

Weitere der Uniformierten eilten vorbei – oder war es der gleiche? - doch keiner beachtete ihn mehr. Also tobte er einfach weiter um seine Nervosität zu überdecken. Dabei verwendete er jedes schlimme, ihm bekannte Wort, wegen dem er als Kind damals immer einen Klaps von der Mutter bekommen hatte.

Seine Bemühungen und Gefluche erstarben augenblicklich.

Moment, hatte seine Mutter ihm überhaupt damals den Hintern versohlt? Wie sah seine Mutter überhaupt aus? Wie hieß sie nochmal? Wie war eigentlich sein Name?

Neue Fragen sprossen in seinem verwirrten und sich überschlagenden Gedanken, doch ein durchdringender Schrei ließen sie dann allerdings genauso schnell wieder verkümmern und Eiswasser füllte plötzlich seine Venen.

»Was war das denn?«, brachte er schwitzend heraus.

»Jemand wurde verurteilt«, antwortete ein Wärter im Vorbeigehen.

»Verurteilt?«

»Ja, dies ist ein Gericht.«

Bevor er weiter fragen konnte, war auch dieser Mann, der seinen Kollegen bis zur kleinsten Gesichtsfalte glich, bereits wieder fort. Anschließend blieb er einige Zeit schweigend in seinem Gerüst und lauschte. Nach einer Stunde oder auch tausend kam dann ein zweiter Schrei, anschließend ein Dritter und darauf folgte wiederum ein Vierter. Und bei jedem Mal setzte sein Herz aus und er spürte wie er blass wie ein Geist wurde.

»Werden die denn alle verurteilt?«, fragte er heiser, als irgendwann dann ein Wärter zu ihm trat.

»Ja.«

»Gibt es denn keine Freisprüche?«

»Nein.«

»Werde ich auch verurteilt?«

»Ja.« Der Uniformierte umrundete das Gerüst und anschließend wurde er nach vorne den Korridor entlang geschoben. »Wir bringen dich nun in den Gerichtssaal.«

Doch gerade dies war nun der Ort zu dem er am allerwenigsten wollte. Erneut begann er sich wie ein verletztes Tier zu gebären. Wie von Sinnen warf er sich so weit hin und her, soweit es die Fesseln erlaubten und kreischte bis er Blut spuckte. Alles in ihm widerstrebte sich dagegen den Gerichtssaal zu betreten. Alles versuchte er um sich loszureißen und zu fliehen, doch die Gürtel hielten und diese Machtlosigkeit trieb ihn weiter in den Wahnsinn. Nichts was er tat, schien irgendeine Wirkung zu haben. Sein Schicksal war ihm aus der Hand genommen. Es blieb ihm nur noch das Urteil entgegen zunehmen. Doch er wollte nicht. Er weigerte sich. Doch wem sollte dies kümmern? Seine Knochen begannen zu knirschen und sein Herz versuchte sich aus seiner Brust herauszusprengen, doch er nahm dies kaum mehr wahr.

Sie erreichten eine Tür und sie wurde geöffnet. Das weit entfernte, mechanische Stampfen erstarb. Grelles, weißes Licht flutete über ihn hinweg und der Gefesselte schrie in Schmerz, als die Pupillen seiner weit aufgerissenen Augen sich verengten. Ohne Mitleid schob ihn der Wärter in den Raum, wo inmitten des hellen Strahlens bereits die wartenden Silhouetten der Richter zu erkennen waren.

Erzählungen aus dem Nirgendwo - Tropfen der UnendlichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt