Der Jäger

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An meine Majestät, der König,
als oberster Archivar und Protokollant der kaiserlichen Provinz Graumark sehe ich mich verpflichtet von den seltsamen Ereignissen in der Siedlung Weißholz zu berichten, die sich dort nun seit einiger Zeit häufen und sich allesamt um den Jäger Hektor (kein Nachname vorhanden) verdichteten und in den letzten Monate überhandgenommen haben.
Vermutlich hat bisher noch keine Kunde von diesem Mann euch erreicht und auch ich kann nur wenig Konkretes berichten.
Das gesamte, bisherige Leben dieses mysteriösen, stummen Mannes kann nach meiner Recherche kurzgefasst auf diese Weise beschreiben werden: Zu Beginn misstraut, anschließend ausgegrenzt, dann verachtet und inzwischen gefürchtet. Vor 28 Jahren wurde er als Säugling nahe des Dorfes in einer schlammigen Grube gefunden. Es war in der Nacht des großen Jahrhundertunwetters, das damals zahllose Leben in Graumark gefordert hat. Neben ihm steckte eine Lanze im Boden, deren Form und Fertigungsart zu keinem bekannten Land passt und in der das Wort Hektor geschnitzt war. So kam er dann zu seinem Namen und wegen einer kurz darauffolgenden Missernte wurde er schon früh als schlechtes Omen angesehen. Da man seine Eltern nicht finden konnte und niemand nach ihm suchte wurde er von einer älteren, zurückgezogen lebenden Frau aufgenommen. Über seine Kindheit ist kaum etwas bekannt, da er nie mit anderen Altersgenossen spielte und sein Wohnort etwas außerhalb im Wald lag. Auch hat sich niemand je die Mühe gemacht mit ihm in engeren Kontakt zu treten.
Als seine Ersatzmutter dann natürlichen Weges starb war er gerade vierzehn und begann sich kurz darauf mit dem Jägerhandwerk selbst zu versorgen. Wer ihm dies beigebracht hat oder woher er seine schwere Armbrust bekam ist bis heute unbekannt. Sein Geschick im Schießen und im Fallenlegen war zumindest von Anfang an bemerkenswert und deswegen zog er noch mehr Misstrauen und nun auch Neid zu sich. Aber er versorgte das Dorf mit weiterer Nahrung und deswegen duldete man ihn.
Doch inzwischen hat sich die Situation auf eine ungute Art und Weise entwickelt und mich auch dazu gebracht Weißholz zu besuchen um der Sache nachzugehen. Dies tat ich nachdem der Dorfvorseher mir mehrere Briefe mit Unterschriften von beinahe der gesamten mündigen Bevölkerung der Ortschaft geschickt hat, in denen er um Hilfe bat, da er mit der Situation selbst überfordert war. Der gesamte Wald um das Dorf ist nämlich nun mit Hektors Fallen gespickt und sie sind so gut versteckt, dass sich kaum noch einer hineintraut. Es gab schon mehrere Verletzte deswegen. Nur noch die Hauptstraße gilt als sicher. Wenn man Feuerholz braucht muss man Hektor bitten einen Bereich mit Fallen zu räumen, damit man an die Bäume kann. Auf Anfragen, doch bitte nur noch mit seiner Armbrust zu jagen, antwortet der hünenhafte, muskelbepackte Mann nur mit einem Kopfschütteln. Viele erwachsene Dorfbewohner meinen sie wären inzwischen gefangen in ihrer eigenen Heimat.
Und dann sind da noch die Kinder und hier wird es erschreckend. Sie können erstaunlicherweise den Wald so oft betreten wie sie wollen und nie tappte bisher eines davon in Hektors Fallen. Auch scheinen sie einen Großteil des Tages mit dem stummen Jäger zu verbringen, auch wenn nicht klar ist, was sie dabei spielen. Man hört zumindest nie ein Lachen oder ein Weinen. Nur Stille, ab und an unterbrochen vom Schrei eines Tieres, das Hektor erlegt. Auch rätselhaft ist das inzwischen fast kollektive Verhalten der Kinder, die keine einzelnen, rivalisierenden Banden oder Spielgruppen mehr bilden, sondern stattdessen alle immer genau gleichzeitig jeden Morgen in den Wald strömen und jeden Abend alle wieder gleichzeitig zurückkommen. Auch berichten die Eltern, dass ihre Zöglinge, sofern daheim, erstaunlich gefügig geworden sind.
Mit dem Jäger Hektor selbst konnte ich nicht reden, was zum einen an seiner Unfähigkeit liegt mit der Zunge Worte zu bilden und zum anderen daran, dass er nur ins Dorf geht, um Fleisch abzuliefern und sonst immer in seinem Wald bleibt. Wirklich Kontakt hat er nur mit den Kindern und die weigern sich über ihn zu sprechen.
Meine Majestät, ich hoffe dieser kurze Bericht verdeutlicht die Situation. Die Menschen in Weißholz sind wegen dieses Mannes sehr beunruhigt, aber sie trauen sich nicht ihn zu verjagen, da sonst niemand mehr weiß wo es überall die Fallen gibt. Es muss etwas getan werden, um diesen armen Seelen zu helfen.
Deswegen bitte ich um eine staatliche Kommission, die entweder versucht mehr über die Herkunft des Jägers Hektor zu erfahren oder sich direkt mit ihm selbst beschäftigt, in der Hoffnung, dass er sich zum Wohle der Gemeinschaft verändert. Wenn nicht, dann ist eine Verbannung auch nicht auszuschließen, auch wenn Hektor bisher nichts Verwerfliches getan hat. Doch er sorgt für großen Unfrieden.
Ein schweres Gewitter erreicht bald Graumark. Die Brücken werden dann überflutet sein. Doch wenn sich das Wetter bessert, hoffe ich auf eine schnelle Antwort von euch, Majetät. Ich kehre morgen vor den Regenfällen und nachdem ich diesen Brief abgeschickt habe nach Weißholz zurück um weitere Untersuchungen anzustellen.
Ihr ergebenster Diener,
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Anmerkung der königlichen Hauptbibliothek: Dies ist der letzte bekannte Brief vom Archivar und Protokollant von Graumark. Er kehrte nie aus Weißholz zurück. Das Dorf ist nun komplett abgeschnitten von der restlichen Provinz, die noch mit den Sturmschäden zu kämpfen hat. Man hat vor zwei Monaten eine Kompanie königliche Soldaten zur Untersuchung ins Dorf geschickt. Sie kamen tags darauf vollzählig zurück, doch keiner von ihnen konnte mehr sprechen. Inzwischen sind fünfzehn an Schlafmangel gestorben. Andere sind durch Selbsteinwirkung erblindet. Entlang der Hauptstraße nach Weißholz findet man regelmäßig Kisten mit Fleisch und Obst, die insgesamt mit den monatlichen Steuern des Dorfs übereinstimmen. Der König hat das gesamte Gebiet zur Sperrzone erklärt und verboten, dass jemand Weißholz oder die umliegenden Wälder betritt.
Anmerkung 2: Inzwischen wurden unbekannte Fallen im Umkreis von Moorstedt, dem Nachbardorf von Weißholz, gefunden. Auch wurde unnatürliches Verhalten an den Kindern beobachtet. Man diskutiert nun diese Ortschaft zu evakuieren.

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