Protokoll #1

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Wir befinden uns in einem Besprechungszimmer im zweiten Stock, nach der Treppe oder dem Aufzug die dritte Tür links. Ein weiß gestrichener, spartanisch eingerichteter Konferenzraum mit grau gefliestem Boden. Einzig und allein die roten Stühle stechen als Farbtupfer hervor. Die Fenster haben keine Vorhänge, lediglich hellgraue Jalousien können auf Knopfdruck heruntergelassen werden. Modern, steril und kalt. Daran kann auch die trockene Heizungsluft nichts ändern. Es riecht noch nach Abdichtungsmaterial, der Neubau wurde erst vor kurzem fertig gestellt. Laut Oberarzt werden die Räumlichkeiten erst noch von einem Profi eingerichtet, denn ein wenig Feng Shui sei doch sehr wichtig in einer solch angesehenen Nervenklinik.

Das Pilotprojekt einer bunt gemischten Therapiegruppe wird heute starten. In kurzer Zeit werden sich auf diesen elf roten Stühlen nicht nur ich, sondern in der Mehrzahl die unterschiedlichsten Patienten wiederfinden. Und ich mittendrin, als einziger Psychotherapeut inmitten zehn von psychisch kranken und psychiatrisch auffälligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen vierzehn und zwanzig Jahren. Da ich dieses Protokoll ohnehin noch einmal in Reinform abtippen werde, wenn die erste Sitzung über die Bühne gegangen ist, sage ich dazu nur: Na dann, Prost Mahlzeit! Frisch von der Universität und kaum mit unzähligen Lehrgängen fertig, soll also ich nun diese Gruppe leiten. Wir werden sehen, ob das klappt.

Und zwar in genau siebzehn Minuten. Ich wäge noch immer ab, ob ich die Luft im Zimmer lieber mit dem Öffnen des Fensters auf eisige Minusgrade abkühlen will oder sie weiterhin trotz längst abgedrehter Heizung zum Schneiden dick und in den Augen brennend lassen will. Ich entscheide mich für ein kurzes Stoßlüften und schaue aus dem Fenster, ehe ich mich wieder meinem Protokoll widme. Erwartet werden fünf junge Männer und fünf junge Frauen, alle mit unterschiedlichen Problematiken, was ja nicht sehr ungewöhnlich ist. Jedoch - und das macht dieses Projekt aus! - sind sie auch aus unterschiedlichen Bereichen unserer Klinik. Je zwei Patienten aus der Institutsambulanz, zwei Patienten aus dem tagesklinischen Bereich, zwei Patienten von der offenen Psychosomatik, zwei Patienten von der halbgeschlossenen Suchtstation und zwei Patienten aus der geschlossenen Allgemeinpsychiatrie.

Für eine solch illustre Zusammensetzung habe ich natürlich einen Melder mit Reißleine bekommen; auf mein Kommando werden also mindestens zwei große männliche Pflegekräfte in diesen Raum gestürmt kommen und das schlimmste verhindern. Wollen wir bloß hoffen, dass dieser Fall nicht eintritt. Denn ich denke, dafür fehlen selbst mir und das sogar mit akribischer Vorarbeit und einigen Achtsamkeitsübungen zu meinem eben getrunkenen Zitronentee die Nerven. Ich stehe auf, denn es wird langsam kalt. Ich schaue auf die Uhr, noch sechs Minuten bis zum verabredeten Termin. Zumindest die Patienten aus dem teilgeschlossenen oder geschlossenen Bereich sollten pünktlich sein, immerhin werden sie hierher begleitet. Mir bleibt also noch eine kurze Gelegenheit, meine Krawatte zurechtzurücken und meine Brille auf der Nase nach oben zu schieben. Noch einmal tief durchatmen, dann öffnet sich die Tür. Und ich schwöre, wenn ich diese anderthalb Stunden überlebe, dann wird das daraus resultierende - und nochmal ordentlich ohne meine schriftstellerischen Ergüsse abgetippte - Protokoll in die Weltgeschichte der Psychotherapie eingehen!

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