Aufzeichnung #1 // Kevin

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Am ersten Tag stattete ich der Psychosomatik einen Besuch ab.

Da meine weibliche Gruppenteilnehmerin laut meinem Stand der Dinge noch vor der ersten Sitzung auf eigene Verantwortung entlassen worden war und niemand sonst sich bereit erklärte oder stabil genug war, ihren Platz einzunehmen, war dies also prinzipiell ein Besuch bei Kevin in seiner natürlichen Therapieumgebung.

Ich hatte gut geschlafen, fühlte mich ausgeglichen und freute mich darauf, den jungen Mann etwas näher kennen zu lernen, ohne dass er sich in einer Extremsituation befand - und eine Gruppe, die über ihn lachte, war definitiv keine schöne Umgebung, um einander ein bisschen zu beschnuppern.

So packte ich meine Aktentasche, schob meine Brille auf der Nase nach oben und meldete mich im Stationszimmer an. Da ich bereits angekündigt war, gab es keine weiteren Probleme und man bat mich kurz herein, um mich darauf hinzuweisen, dass Kevin heute einen schlechten Tag hatte. Auf zaghaftes Nachfragen wurde mir sogar gesagt, dass scheinbar tatsächlich die Nachwehen der anstrengenden Gruppe dafür verantwortlich waren.

Allerdings ging man beim Pflegepersonal davon aus, dass sich das wieder geben würde und ich erfuhr, dass sich Kevin allgemein sehr kooperativ und einsichtig zeigte. Er nahm regelmäßig an seinen angeordneten Therapien teil, brachte sich manchmal sogar ins Stationsgeschehen ein und war für seltene, aber durchaus weiterbringende Beiträge in Kleingruppen auf der Station bekannt.

Als ich das Stationszimmer verließ, atmete ich kurz tief durch und wünschte mir, es nie betreten zu haben. Jetzt konnte ich wieder nicht vollkommen unvoreingenommen an die Sache herangehen. Ich sollte vielleicht wirklich darauf verzichten, mich im Vorfeld zu informieren. Nun gab es aber keine andere Möglichkeit mehr, als mit dem zu arbeiten, was ich wusste.

Und bevor ich mir ein eingehendes Bild machen konnte, brach ich alle Informationen auf einen einzigen Satz herunter:

Kevin ist in fremden Situationen schüchtern, in einem sicheren Umfeld taut er jedoch auf.

Das ist etwas, was man über beinahe jeden Menschen sagen kann, also soll es mich nicht beeinflussen, wenn ich ihn gleich treffe. Die Station hatte mir ein kleines Büro zur Verfügung gestellt, in dem ich meine Aktentasche auspackte und mir notdürftig einen Arbeitsplatz zusammenstellte. Eine Schwester brachte noch eine Flasche Wasser und zwei Gläser, dann informierte sie mich, dass Kevin auf seinem Zimmer war und vermutlich die Zeit vergessen hatte.

Ich ließ es mir nicht nehmen, ihn persönlich an den Termin zu erinnern. Etwas aus anderen Quellen zu erfahren war unsicher. Aber dennoch war ich neugierig genug, um einen Blick in sein Zimmer werfen zu wollen. Allein wie man mit der Möglichkeit umging, ein klein wenig persönlichen Einfluss auf die eigene Seite des standardmäßig eingerichteten Doppelzimmer zu nehmen, sagte doch oft schon einiges über einen Patienten aus.

So erklomm ich die Treppen in den zweiten Stock zu den Patientenzimmern und suchte an der Tür nach dem Namen "Park".

Und ich hatte Glück: Kevin Park war allein in seinem Zimmer, der Kollege war nirgendwo zu sehen, als ich nach einem Klopfen und nach Vernehmen des obligatorischen "Ja?" eintrat und die Tür hinter mir anlehnte. Und so hatte ich die Chance, meine Bitte nicht allzu eilig zu machen, sondern mich unbemerkt ein bisschen umzusehen.

Kevin saß auf seinem Bett und starrte mich aus großen Augen an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen. Oder vielleicht auch so, als wäre ihm siedend heiß wieder eingefallen, dass er eigentlich einen Termin hätte wahrnehmen sollen. Ich lächelte, um ihm zu bedeuten, dass es nicht schlimm war.

Er saß nicht bequem, er lümmelte nicht auf der Matratze herum, sondern hockte etwas steif und verloren auf der Bettkante, die Fäuste um etwas fest verschlossen, das ich auf den ersten Blick als altmodisches Stofftaschentuch identifizierte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 06, 2017 ⏰

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