Protokoll #2

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Es läuft nicht so schlimm wie erwartet. Um ehrlich zu sein: Es läuft noch viel schlimmer, als ich mir jemals hätte ausmalen können.

Von den zehn erwarteten Probanden sind genau sechs aufgetaucht; was nach Adam Riese eine Quote von sechzig Prozent bedeutet und somit an sich nicht zwingend das Schlechteste ist, aber- was soll ich machen, wenn mir vier Teilnehmer meiner festen Gruppe fehlen, die zumindest mal für den nächsten Monat wöchentlich in derselben Besetzung angedacht ist?

Erst einmal musste ich selbstverständlich in Erfahrung bringen, wohin meine Patienten entschwunden waren. Dies uferte wie folgt aus: Die Patientin der Psychosomatik wurde gegen ärztlichen Rat auf eigenen Willen noch an diesem Vormittag nach Hause entlassen. Der Patient aus der Geschlossenen war laut Pflegedienst nicht in der Lage, an der Gruppe teilzunehmen. Die Patientin aus der Tagesklinik weigerte sich konsequent, an der Gruppe teilzunehmen und schreibt nun eine Verhaltensanalyse über ihr Fehlen.

Anwesend sind demnach: Die Patientin aus der Institutsambulanz, die Patientin aus der Geschlossenen und die vier männlichen Patienten aus jeder Station minus demjenigen aus der Geschlossenen. Für das Protokoll sind in diesem Raum nun also vier junge Männer, zwei junge Damen und ich. Wobei ich natürlich nachträglich korrigieren möchte, dass uns die Patientin aus der Geschlossenen nach genau drei Minuten meines Einführungsvortrags wieder verlässt, weil es ihr zu viel wird. Somit haben wir nur noch eine Vertreterin des weiblichen Geschlechts in unserer Gruppe, was mich persönlich ziemlich frustriert, weil ich ausdrücklich auf eine gemischte Zusammensetzung bestanden hatte.

Ändern kann ich daran nichts. Ich habe meinen tatsächlich etwas ausufernden Vortrag unterbrochen und eine Aufgabe in die Runde gestellt, die nun nur noch aus fünfzig Prozent der Teilnehmer besteht. Jeder solle sich doch bitte mit ein paar Worten kurz vorstellen. Da keiner so richtig zu wissen scheint, wie er anfangen soll, räuspere ich mich und beginne mit der erzwungenen Vorstellungsrunde:

"Mein Name ist Adam Eckstein, ich bin psychologischer Psychotherapeut und leite, wie ihr sicherlich schon alle mitbekommen habt, diese Gruppe. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, wohne hier in Nürnberg und bin hier, um euch zu helfen und bei eurer Therapie zu unterstützen!"

Freundlichst lächle ich in eine Runde aus kritisch bis missmutig dreinschauenden Gesichtern. Die roten Stühle stehen nicht mehr im Kreis, immerhin habe ich die fünf Leute gebeten, ein bisschen zusammen zu rücken, da wir nun nur noch so wenige sind. Mehr oder minder demotiviert strahlt mir die Einstellung einer verlorenen Generation entgegen, zu der ich selbst fast noch gehöre. Und ich bin mir sicher, dass genau diese Tatsache mich einiges am gewollten Respekt einbüßen lässt. Die junge Dame opfert sich tatsächlich:

"Soll ich weitermachen?", fragt sie leise.

Ich nicke dankbar und sie lächelt schüchtern, ehe sie erstaunlich souverän beweist, dass das heute nicht ihre erste Therapievorstellung ist:

"Hi, ich bin Leonie, aber ihr könnt mich Leo nennen. Ich werde bald neunzehn und bin hier noch ambulant wegen Ängsten und Zwängen", sie macht eine kurze Pause und scheint zu überlegen.

Im allgemeinen Schweigen klingt ihre leicht zittrige Stimme noch in meinen Ohren nach und ich nicke ihr aufmunternd zu, ehe ich eindringlich die vier Jungs mustere:

"Sehr gut. Wer möchte weitermachen?"

Ich tippe auf: Keiner. Denn die vier jungen Männer weichen konsequent meinen Blicken aus. Der eine desinteressiert, der andere fast ängstlich, einer sieht beinahe aggressiv aus und der letzte im Bunde starrt eh einfach nur apathisch vor sich hin. Spätestens in diesem Moment ärgere ich mich, dass ich nicht die Chance bekommen habe, jeden vor der Gruppe mindestens zu einem Termin einzeln zu sprechen; jetzt, da sie so namenlos und ohne zugeordnete Akte da sitzen, habe ich das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wer denn nun wer ist.

"Okay, ich mach weiter", kommt es zaghaft von dem Jungen mit dem beinahe verängstigten Blick aus den schmal geschnittenen tiefschwarzen Augen, "W-wenn das okay ist?"

"Natürlich, sehr gern!", bestärke ich ihn freundlich lächelnd in seiner Unsicherheit.

Er schluckt und nickte und knetet die Hände ineinander.

"Äh, ja. Also ich heiße Kevin", beginnt er und ich versuche, verhaltenes Gelächter aus der linken Flanke mit einem diskreten"Pscht!", im Keim zu ersticken. 

So desinteressiert der dürre Junge mit den langen blonden Haaren links auch wirken mag, anscheinend bekommt er genügend mit, dass er sich über eine Lappalie wie einen unglücklich konnotierten Vornamen amüsieren kann. Besagter asiatisch anmutender Kevin fährt nach mehreren missglückten Anläufen doch tatsächlich mit hochrotem Kopf fort:

"A-also. Ich, ich bin siebzehn, äh, und wohne gerade hier im Krankenhaus. Auf der PSM, das heißt Pyschoso- pschyoso- Poschysomatisch!"-

"Psychosomatik", falle ich ihm ebenfalls ein bisschen zu belustigt mit einer gut gemeinten Berichtigung ins Wort.

Allerdings verstecke ich mein Amüsement besser als der prustende blonde junge Mann ganz links. Das kann ja heiter werden. Ich verpacke meine gute Laune in ein eisern optimistisches Lächeln.

"Sehr gut, Kevin", gebe ich ein wenig Starthilfe und verleihe Nachdruck:

"Warum bist du hier?"

"Ich, ä-äh, na- weil der Arzt sagte, ich soll hier mal dazu kommen u-und, ach so. Warum ich im Krankenhaus bin?", er schaut mich fragend an und ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu applaudieren über diesen Geistesblitz.

Dennoch trübt nichts meine gutmütige Engelsgeduld. Außer vielleicht der Langhaarige links, der seinen knochigen Hintern kaum auf dem Stuhl halten kann vor Lachen. 

"A-also der Arzt hat gesagt", beginnt Kevin und als der Junge rechts von ihm auch noch verhalten zu husten beginnt, habe ich langsam Mitleid mit ihm:

"Es heißt Pos- postamatische, ähh, postdramatische Befassungsstörung?"

"Du bist ja auch ne post-dramatische Belastung, Kevin!", bricht es in einer Mischung aus Boshaftigkeit und Erheiterung aus dem blonden Jungen hervor.

Kevin weiß nicht, wie ihm geschieht. Seine Hände umklammern sich gegenseitig, als er versucht, sich zu verteidigen:

"Das hat der Arzt gesagt! Postdramatisch"-

"Posttraumatische Belastungsstörung!", gehe ich schneidend dazwischen. 

"Und es ist nicht lustig. Möchtest du bitte weitermachen?", wende ich mich fast schon ein bisschen herausfordernd an den dürren Jungen.

Irgendwann setzt nämlich selbst mein gern sehr lang verborgen bleibender Beschützerinstinkt ein. Und wenn es etwas gibt, was ich in meiner ersten Gruppe in keinem Fall dulden werde, sind es Beleidigungen untereinander.

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