Die Uhr an der Wand tickt.
Die Zeit verrinnt.
Die bislang vergangenen sechs Minuten kommen mir vor wie etwa sechs Monate, in denen einfach nichts geschehen ist. Ich räuspere mich und tatsächlich sieht der langhaarige Blonde auf und kratzt sich mit seinem knochigen Mittelfinger provokant am Kinn.
Ich werde das nun nicht auf mich beziehen, aber der sonst robuste Strick meiner Geduld wird langsam zum seidenen Faden.
"Du bist dran. Wie heißt du?", frage ich mit auffallend tonloser Stimme, um meine Genervtheit zu verbergen.
Die eigene Therapie zu verweigern ist eine Sache, aber wirklich störend wird es, wenn Mitpatienten ebenfalls darunter leiden müssen. Und das kann ich - als einzige zumindest auf dem Ausweis erwachsene Respektperson im Raum - nicht zulassen.
Tatsächlich lässt er die Hand sinken und gibt sich einen Ruck:
"Pascal", ist die zweisilbige Antwort.
Ich seufze erleichtert. Mit einem Namen kann man zumindest mal arbeiten,
"Sehr gut, Pascal! Wie alt bist du? Woher kommst du? Warum bist du hier?"
Pascal verdreht die Augen, lässt sich desinteressiert gegen die Stuhllehne sinken und meldet sich schließlich mit passiver Aggressivität zu Wort, sodass die Vorstellungsrunde endlich weitergeführt werden kann:
"Ich bin fünfzehn, komme aus der Tagesklinik und brauche dringend professionelle Hilfe, weil ich traumatisiert von Kevins blödem Gelaber bin!"
Na gut, so habe ich mir das nicht vorgestellt. Und Pascal scheint genau zu wissen, wie bösartig seine Worte waren, immerhin weicht er meinem strengen, ja fast wütenden Blick konsequent aus und kratzt sich nun an den teilweise eingerissenen Fingerknöcheln.
"Pascal, ich würde dich bitten, den Raum für fünf Minuten zu verlassen. Du kannst dir vor der Tür überlegen, wie unpassend dein Kommentar war und wenn du wiederkommst, möchte ich, dass du dich bei Kevin entschuldigst."
Pascal verzieht das Gesicht und versucht sich zu verteidigen:
"Aber ich hab doch gar nichts gemacht!"
"Darüber kannst du jetzt ausgiebig nachdenken. In fünf Minuten kommst du wieder, wenn nicht rufe ich auf deiner Station an. Also, wenn ich bitten darf?", meine Geduld ist kurz vor dem Zerreißen, als ich Pascal mit einer vielleicht etwas zu emotionalen Gestik zur Tür winke.
Ich kann nur froh sein, dass ich Therapeut bin und kein Pädagoge, glücklicherweise muss ich mich ansonsten seltener mit adoleszenten Problemfällen auseinandersetzen, ansonsten bräuchte ich wohl bald selbst einen Therapeuten. Pascal steht nach einigem Murren tatsächlich auf und verlässt mit schlurfenden Schritten das Zimmer - und knallt die Tür.
Leonie zuckt zusammen und zittert leicht.
Ich presse die Zähne aufeinander und zähle innerlich bis zehn, ehe ich mich mit einem freundlichen Lächeln wieder an die Gruppe wende.
"Das solltest du nicht persönlich nehmen, Kevin!", versuche ich den Angesprochenen wieder zurück in die Realität zu holen, denn nachdem ich schon Angst gehabt habe, dass er in Tränen ausbricht, ist sein Blick eher glasig und entrückt geworden.
Tatsächlich blinzelt er mich verwirrt an, während ich versuche, irgendetwas tröstendes zu sagen:
"So eine Beleidigung sagt nichts über den aus, an den sie gerichtet ist - nur über denjenigen, der sie ausspricht. Unsicherheit lässt Menschen schnell aggressiv werden, als eine Art natürlichen Schutzreflex. Du hast nichts Blödes gesagt, es ist alles gut."
Kevin schluckt und nickt langsam. Leonie lächelt ihm aufmunternd zu. Stille herrscht neben dem Ticken der Uhr, bis die Tür wieder aufgeht und Pascal sich mürrisch dreinschauend, aber schweigend wieder auf seinen Platz setzt und die dünnen Beine wortlos übereinanderschlägt.
Da meldet sich das nächste bislang namenlose Gesicht zu Wort und ich hätte niemals selbst für eine perfektere Überleitung sorgen können als der bislang stille junge Mann im übergroßen Kapuzenpulli:
"Können wir jetzt weitermachen?"
"Sehr gern!", sage ich sofort und nicke ihm lächelnd zu, "Du hast das Wort!"
Kurz zeichnet sich Unverständnis auf seinen weichen Zügen ab, dann räuspert er sich geräuschvoll und ich beobachte, wie er die Fliesen auf dem Boden mustert, während er mit dem Bein wippt und den Oberkörper kaum merklich vor und zurück wiegt.
"Dennis. Zwanzig Jahre alt. Entzug und Abstinenzmotivation auf der Suchtstation. Ich wurde gebeten, an dieser Studie teilzunehmen. Das ist alles."
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie sympathisch diese produktiv-informative Herangehensweise in diesem chaotischen Haufen wirkt, mache mir aber eine mentale Notiz, dass es bemerkenswert ist, in der Position und dem Alter unter den gegebenen Umständen so sachlich zu bleiben.
Beschwingt über die schnelle und präzise Ausführung meiner Aufgabe wende ich mich an den letzten noch verbleibenden Teilnehmer meines Kuriositätenkabinetts, der anscheinend noch nicht bemerkt hat, dass er nun gefragt ist. Um genau zu sein, scheint er gar nicht wirklich geistig anwesend zu sein.
Mittlerweile habe ich dann doch keine Geduld mehr und schnippe penetrant mit dem Finger, sodass der Junge mit den Sommersprossen keine andere Wahl hat, als mich verwirrt anzustarren.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Kevin mit den Tränen kämpft, während sein Blick immer wieder zu Pascal huscht.. Dennis wippt weiterhin scheinbar nervös auf seinem Stuhl und Leonie kratzt den halb abgeblätterten Lack von ihren Fingernägeln. Pascal schmollt weiterhin, immer noch ohne Entschuldigung an Kevin. Ich seufze tief und ergeben auf, erinnere mich an die Aktenlage meiner Vorbereitung und zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen.
"Würdest du dich auch kurz der Gruppe vorstellen?", ich schaffe es, mir nichts von meinem Unmut anmerken zu lassen, als ich die Frage stelle.
"Welche Gruppe?", ist die Antwort des Rotschopfes, in zaghaft-brüchiger Stimme vorgetragen und ich schiele hoffentlich unbemerkt auf die Uhr.
Laut Aktenlage meiner Vorbereitung ist mir natürlich klar, wer der verbleibende Junge ist, trotzdem soll doch alles seine Richtigkeit haben. Ich deute mit einer ausladenden Geste auf die anderen jungen Menschen im Raum und schaue ihn erwartungsvoll an, knirsche aber innerlich mit den Zähnen.
"Unsere kleine aber feine Runde hier!", erkläre ich, meine Stimme immer noch so sanft wie möglich.
Sicherlich halten alle, die meine schauspielerischen Fähigkeiten unterschätzen, mich für einen kompletten Spinner, der nur Gutes im Sinn hat, an das Gute im Menschen glaubt und in allem das Gute sehen kann.
"Ah, verstehe!", sagt er und nickt leicht.
Nein, tust du nicht, schreit alles in mir, aber ich bleibe ruhig.
"Eike. Eike heiße ich", anscheinend versteht er doch.
Zumindest teilweise, denn als ich tatsächlich da Gefühl habe, dass wir es noch schaffen könnten, wird meine Hoffnung wieder von der bitteren Realität relativiert:
"Ich bin hier, um euch von den wunderbaren Taten Gottes zu berichten! Alle sind wir eins mit dem Heiligen Geist, erlöst von Jesus Christus und ich bin auserwählt, um euch diese frohe Botschaft zu überbringen!"
"Danke Eike", sage ich trocken und schiebe die Brille auf meiner Nase nach oben.
Dann schaue ich Pascal an.
Pascal weicht meinem Blick aus.
Kevin schaut Pascal an und schluchzt leise.
Leonie fühlt sich dazu berufen, ihre Hand tröstend auf Kevins Schulter zu legen.
Dennis wendet den Blick wieder auf den Boden und trommelt mit den Fingern auf sein Knie.
Eike faltet die Hände und schließt die Augen.
Ich atme tief ein und aus, dann verkündige ich für meinen Teil die tatsächliche frohe Botschaft:
"Ich danke euch für die Vorstellung. Wir machen jetzt zehn Minuten Pause!"
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Regenkinder
Fiction générale"Wir sind die Kinder, vor denen dich deine Eltern gewarnt haben." #nojusa Vier Jungs, vier Schicksale; vier zerplatzte Träume und ein leerstehender Wohnwagen. #47 in Aktuelle Literatur am 4. September '17