Die Woche zwischen der ersten und der zweiten Sitzung nutzte ich dazu, mir Gedanken über mein Leben, die Welt und dieses besondere Projekt zu machen.
Und nach ein oder vielleicht zwei Tagen hatte ich den Entschluss gefasst, dass ich alles daran setzen werde, diese Sache zu Ende zu bringen und mein Protokoll nach reiflicher Überarbeitung - und ohne all die bissigen Kommentare, für die ich mich tatsächlich nachträglich nun ein bisschen schäme - als Studie zu veröffentlichen. Nicht nur ich würde daran wachsen - auch die Patienten, die Leser, alle Angehörigen und die anderen Fachleute. Aber hauptsächlich doch wohl die Patienten- oder zumindest hoffte ich das.
Ein weiterer Entschluss, den ich in die Tat umsetzte, war es, jedem der Probanden in seiner natürlichen Therapieumgebung einen Besuch abzustatten.
Das hieß, ich würde Termine in der Ambulanz vereinbaren, zu einem passenden Zeitpunkt in der Tagesklinik vorbeischauen, aber auch nacheinander die Psychosomatik und die Suchtstation besuchen. Das tat ich und die Ergebnisse waren erstaunlich aufschlussreich, befinden sich zum Zeitpunkt dieser Aufzeichnung aber noch als Erstentwurf auf meinem Notizblock.
Auf der geschlossenen Station hatte man meinem Anliegen nicht zugestimmt und ich nahm es zähneknirschend hin; immerhin hatte ich von dieser Station noch niemanden eingehend getroffen, was die Sache zunehmend erschwerte. Und auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon dass Gefühl hatte, den harten Kern der Gruppe bereits zu kennen, wollte ich mich nicht damit zufrieden geben, meine Studie an vier Jungs durchzuführen. Ich brauchte alle zehn Teilnehmer. Wollte alle zehn Teilnehmer, fünf weiblich, fünf männlich, damit es für die Statistik zumindest ein klein wenig relevant bleiben würde.
Doch mit jedem Tag, an dem ich mich immer tiefer und tiefer in diese Sache stürzte; mit jedem Tag, an dem ich nachts wach lag und erst in den Morgenstunden einschlief; mit jedem Tag, an dem mich die Schicksale und Probleme bis zum letzten meiner regulären Termine begleiteten, die ich nur mit genügend Kaffee wahrnehmen konnte; mit jedem Tag wurde mir mehr bewusst, dass es nicht um die Statistik geht, sondern um die Menschen.
Es gibt wirklich weniger DAS typische Krankheitsbild als einfach Überschneidungen, die bei verschiedenen Menschen aus verschiedenen Umgebungen unabhängig voneinander auftreten. Und das Wichtige daran sind weder unverkennbare Symptome noch illustre Diagnosen.
Das Wichtige an der ganzen Sache sind nämlich einzig und allein die Menschen selbst als solche, nicht mehr und nicht weniger.
Und heute sitze ich hier und schreibe am Protokoll, obwohl die nächste Gruppe erst morgen stattfinden wird. Heute ist somit der letzte Tag, der mir noch bleibt, um die vergangene Woche Revue passieren zu lassen und mir eine Strategie auszudenken, damit morgen alles glatt läuft beim zweiten Termin der Therapiegruppe.
Auch habe ich noch die Gelegenheit, mein Protokoll um die persönlichen Aufzeichnungen über jeden meiner vier bisher hauptsächlichen Probanden zu erweitern, diese also ins Reine zu schreiben und mir vielleicht sogar noch mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, als ich es ohnehin schon getan habe.
Vor mir liegen meine Notizen, all meine vergangenen Aufzeichnungen, dicke Bücher und daneben acht mehrmals zusammengeknüllte und wieder aufgefaltete Stück Papier.
Ich habe sie nach Handschrift und meiner Interpretation in eine 2 x 4 Tabelle geordnet und sie lesen sich wie folgt:
meinen Papa enttäuschen - Rockstar sein
das Leben nochmal von vorn beginnen zu müssen - eigene Familie
ganz allein zu sein - genauso wie mein Bruder zu werden
Feuer - ewige Geborgenheit
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Regenkinder
General Fiction"Wir sind die Kinder, vor denen dich deine Eltern gewarnt haben." #nojusa Vier Jungs, vier Schicksale; vier zerplatzte Träume und ein leerstehender Wohnwagen. #47 in Aktuelle Literatur am 4. September '17