Protokoll #4

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Zehn Minuten habe ich Zeit, mich von dieser niederschmetternden Erfahrung zu erholen.

Ganz gewiss habe ich mir das so nicht vorgestellt, aber jetzt ist es zu spät, um aus dem Projekt wieder auszusteigen - lieber verliere ich den Verstand, als dass meine Kollegen über mich spotten, dass ich gescheitert bin und/oder versagt habe. Ich werde ihnen beweisen, dass ich trotz meines Alters um einiges fähiger bin, als sie denken.

Ich verbringe die zehn Minuten damit, mir einen Zitronentee zu machen und mir gut zuzureden. Jedoch komme ich nicht dazu, die Tasse überhaupt zum Mund zu führen, weil Leonie aus der Ambulanz zu mir kommt und sich für den Rest der Stunde entschuldigt.

Nur zu gut kann ich sie verstehen, dennnoch frage ich nach dem Grund; sie meint, es ginge ihr nicht gut. Standard-Antwort und man weiß immer noch nicht, was im Patienten vorgeht. Da ich allerdings die letzte halbe Stunde mit ihr gelitten habe, kann ich mir ungefähr denken, woher der Unmut kommt.

Kurz denke ich mir, dass ich mich ebenfalls entschuldigen könnte. Dann verwerfe ich den Gedanken und nehme Leonie das Versprechen ab, sich noch beim Personal der Ambulanz abzumelden, ehe sie nach Hause geht, und zum nächsten Termin wieder zu erscheinen. Dann lasse ich sie ziehen, wenngleich auch sehr bedauernd, dass auch noch das letzte weibliche Wesen sich meinem Experiment entzieht.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr, einen Blick auf meine randvolle Teetasse und dann wage ich mich wieder in die Höhle des Löwen. Die roten Stühle stehen da noch immer, als wollen sie mich verspotten. Sechs davon in einer kreisähnlichen Zusammenkunft; alle bis auf Pascal, Leonie und ich sitzen schon wieder. Die anderen Stühle noch unberührt im zuerst geplanten Stuhlkreis und ehe ich anfange, mit dem Schicksal oder dem heiligen Geist zu hadern, begebe ich mich wieder auf meinen Platz.

Kevin scheint sich noch immer nicht ganz erholt zu haben, Dennis zieht schnell die Stöpsel aus den Ohren und Eike schaut mich nun tatsächlich erwartungsvoll an. Als die Tür aufgeht und auch Pascal sich wieder auf den roten Stuhl sinken lässt, mustere ich noch eben den leeren Platz von Leonie und verkneife mir das fast schon obligatorische Seufzen.

Ihr Stuhl wird für heute leer bleiben und ich bin allein mit vier jungen Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Für einen Moment wünsche ich mir noch, die Akten doch genauer studiert zu haben, dann räuspere ich mich, klatsche leise in die Hände und schaue freundlich lächelnd in die Runde.

"Willkommen zurück!", höre ich meine wieder erstaunlich feste Stimme,

"Leider hat Leonie uns für heute verlassen müssen, aber beim nächsten Mal wird sie uns wieder Gesellschaft leisten. Und hoffentlich noch ein paar neue Gesichter, die heute nicht teilnehmen konnten."

Die Betonung liegt ganz eindeutig auf: hoffentlich. 

Und vielleicht sogar noch ein angehängtes: nicht! 

Denn wenn ich mit diesen vier Probanden schon zu kämpfen habe, wie hätte es werden sollen, mit gleich zehn davon? Ich schüttele den Gedanken ab, dass es vielleicht doch nicht die beste Idee war, das hier durchzuziehen. Doch bevor ich mit meinem geplanten Programm fortfahren kann, ist immer noch eine Sache offen.

"Pascal, wolltest du dich nicht bei Kevin entschuldigen?", ich fixiere den blonden Jungen mit meinem Blick und er starrt missmutig aus leicht geröteten Augen zurück.

Vielleicht ist er gar nicht so hart wie er denkt. 

Aber Kevin sinkt so elendig auf seinem Stuhl zusammen, dass ich ihm noch mehr Aufmerksamkeit erspare, nachdem Pascal nach einigen Momenten immer noch nichts an dem fest zusammengepressten Zustand seiner Lippen geändert hat.

"Na dann, hoffentlich das nächste Mal! Vielleicht denkst du nochmal drüber nach", sage ich nur und verschränke beide Hände locker im Schoß.

Dennis hebt zaghaft die Hand, schaut mich aber nicht an.

"Was steht heute noch auf dem Programm?", fragt er nur und ich erwische mich bei dem ärgerlichen Gedanken, dass er bloß nicht meine Autorität anzweifeln soll.

Trotzdem bin ich dankbar über die Unterstützung und nicke:

"Da das heute die erste Stunde ist, steht sie ganz im Zeichen davon, dass wir uns ein wenig kennen lernen und beschnuppern. Eigentlich hatte ich ein paar spielerische Aufgaben geplant, aber dafür bräuchten wir mehr Teilnehmer, von daher"- ich stocke kurz und stehe dann auf, um in meiner Aktentasche zu kramen -"machen wir heute etwas anderes, was aber nicht weniger relevant wäre!"

Ich teile jedem zwei Zettel und einen Kugelschreiber aus. Eike starrt den Stift an, als hätte er noch nie einen gesehen. Kevin zerknittert die Zettel schon leicht, als er sie anfasst, so sehr zittern seine Hände. Pascal starrt noch immer bockig zu mir und Dennis erstaunt mich damit, den Stift extrem geschickt zwischen den Fingern umherwirbeln zu können.

"Also Folgendes. Auf den einen Zettel schreibt ihr leserlich euren größten Wunsch. Ohne Name, ich will nicht wissen, welcher Zettel von wem ist! Und auf den anderen Zettel schreibt ihr, ebenfalls leserlich und ohne Namen, eure größte Angst. Bitte schreibt auch nicht dazu, welches der Wunsch und welches die Angst ist! Das ist besonders wichtig."

Tatsächlich beginnen entgegen meiner Erwartung alle vier damit, zu schreiben.

Ich kann es kaum fassen und starre auf Pascals Haaransatz, denn selbst er senkt den Kopf, um sich dem Zettel zu widmen. Ich muss nicht einmal erwähnen, dass niemand zu einem anderen spicken soll und dass es irrelevant ist, wie die Angaben formuliert werden.

Kurze Zeit später halte ich acht kleine, mehr oder minder ordentlich zusammengefaltete Zettelchen in der Hand und kann mein Glück kaum fassen.

Als alle wieder sitzen, mische ich die Zettel kurz durch und lege dann einen nach dem anderen wieder aufgefaltet für alle sichtbar auf den Boden in die Mitte. In beinahe einträchtiger Stille huschen vier Augenpaare über die Worte auf dem Boden. Bei jedem ist die Tinte blau, vermutlich kennt keiner die Handschrift des anderen und somit weiß in jedem Fall jeder nur um die eigenen Zettel bescheid.

Ich muss ehrlich lächeln: "Na also, geht doch! Die Aufgabe ist jetzt"--

"Raten, welche Zettel von wem sind?", fragt Kevin kleinlaut.

"Gute Idee, Kevin!", sage ich statt 'Nein, bitte lass mich ausreden!' und füge nur ein "Aber das machen wir nicht" hinzu.

"Die Aufgabe ist, dass wir nun gemeinsam zwei verschiedene Stapel von Zetteln sortieren: einer für die Wünsche und einer für die Ängste!"

Kevin meldet sich und fragt: "Aber woher sollen wir wissen, was Wünsche und was Ängste sind?"

Statt 'Wir sind nicht in der Schule, gottverdammt!' sage ich freundlich und mit einem hintergründigen Lächeln:

"Genau darin besteht eure Aufgabe!"

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