Betretenes Schweigen von Seiten der Gruppenteilnehmer, alle starren auf die jetzt schon irgendwie schmuddelig aussehenden Zettel zu ihren Füßen.
Ich habe ja im Prinzip nur ein A4-Blatt mehrmals gefaltet und sorgfältig auseinander gerissen.
Da liegen große Worte und kleine Halbsätze; Träume, Wünsche, Ziele; Ängste, Sorgen, Befürchtungen.
Bedürfnisse und Beschränkungen, alles, was in diesen jungen Köpfen vor sich geht und was sie preisgeben können; in einer Gruppe, die sie noch nicht kennen, deren erster Kontakt geprägt von Unverständnis und Konflikt war; dafür muten die Antworten auf den Zetteln erstaunlich ehrlich an. Keine doofen Kommentare, keine flapsigen Bemerkungen; einfach nur Worte, die vielleicht mehr bedeuten, als jeder von ihnen zugeben würde.
Vielleicht sogar das, was die Motivation eines Menschen ausmacht und einiges über sein Innerstes verrät - anonym und doch nicht ganz, denn man kann zumindest Paare bilden bezüglich der Handschrift und zumindest weiß jeder, welches Zettelpärchen er selbst geschrieben hat.
Während ich die Beschriftungen lese, komme ich nur für Sekundenbruchteile auf den Gedanken, dass es nur acht statt zwanzig Stück Papier sind. Viel zu wertvoll scheint jeder eigene, schließlich wirkt keiner der vier auf mich, als würde er regelmäßig Gefühle oder Regungen schriftlich festhalten. Von daher ist es sogar vielleicht das kostbarste Geschenk, das die Jungs mir entgegenbringen können:
Vertrauen und Ernsthaftigkeit. Nach dem holprigen Start habe ich also zum ersten Mal das Gefühl, dass es bergauf geht.
"Hat jemand von euch irgendwelche Vorschläge oder Ideen?", ermuntere ich die jungen Männer, das Schweigen zu durchbrechen.
Keiner sagt was.
Kevin scheint sich mit Mühe im Hier und Jetzt halten zu wollen - ich erinnere mich an die Erwähnung von dissoziativen Zuständen in der Akte.
Pascal rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her - ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das dünne Polster bei seinem knochigen Körper ausreicht, damit es einigermaßen bequem ist.
Dennis scheint zu überlegen, stoppt aber weder das Trommeln seiner Finger noch das Wippen seines Beins - ich denke, er braucht das irgendwie.
Eike murmelt unverständlich geflüsterte Worte vor sich hin - ich bin mir nicht sicher, ob sie an uns, an ihn selbst oder jemand ganz anderen gerichtet sind.
Beinahe ehrfürchtig schauen sie die Papierfetzen mit den gekrakelten Buchstaben an und fast hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Ich versuche noch einmal, ein bisschen zu motivieren:
"Gibt es Zettel, bei denen es euch sofort klar ist, ob es Wunsch oder Angst ist? Oder gibt es Zettel - natürlich außer euren eigenen - bei denen ihr die Angst oder den Wunsch nachvollziehen könnt?"
Immer noch nichts. Mit einem Blick zur Uhr seufze ich leise und lächele in die Runde.
"Unter diesen Umständen schlage ich vor, dass wir langsam zum Ende kommen. Ich bitte euch noch um eine kurze Abschlussrunde, also dass jeder noch sagt, wie es ihm jetzt geht und ob er etwas aus der Sitzung mitnehmen kann. Wer möchte beginnen?"
Weil alle ein bisschen pikiert schweigen, meldet sich großzügigerweise Dennis zu Wort:
"Mir geht es wie zuvor, prinzipiell ausgeglichen. Ich bin dankbar für die Abwechslung im Alltag und ich sehe keinen Grund, etwas hier mitzunehmen. Das wäre Diebstahl und mit einem roten Stuhl kann ich nichts anfangen."
Einige Momente lang starre ich ihn an, als ob ich auf das allgemeine Gelächter warten würde. Aber selbst Pascal scheint nicht verstanden zu haben, dass das eben kein Witz war und dass Dennis meine Gesprächsanforderung wirklich wörtlich genommen hat. Er verzieht auch keine Miene und da nicht einmal Pascal zu lachen beginnt, nicke ich nur perplex.
Vielleicht brauche nach dieser Sitzung auch ich einen Therapeuten. Ich verzichte darauf, jemanden zu bitten, dass er fortfahren möge - am Ende flüchtet noch jemand mit einem Auto aus der Klinik und das ist das letzte, was ich bezwecken will. Kevin knabbert kaum hörbar am Nagel seines Daumens und Eike ist der nächste, der etwas sagt:
"Mir geht es gut, ich verstehe den Sinn hinter dieser Sache nicht genau, aber es war in Ordnung."
Ich will schon 'Danke' sagen, da steht er auf und beginnt mit "Der Herr segne euch und behüte euch; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über euch und gebe euch Frieden."
Umso überraschter bin ich, als ich sehe, dass Kevin tonlos die Lippen dazu bewegt, Pascal sogar leise mitmurmelt und beide beim "Amen" mit einstimmen. Nur Dennis wippt weiterhin hektisch mit dem Fuß auf und ab, er scheint sich ebenso zu fragen, was das hier wird.
Letzten Endes bin ich aber froh, dass es nicht eskaliert und dass zumindest eine Gemeinsamkeit zwischen Kevin und Pascal zu existieren scheint. Während ich es noch unglaublich finde, dass so junge Leute noch so fest am - meiner Meinung nach längst überholten - christlichen Glauben festhalten, streicht Pascal sich ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren und macht weiter:
"Also erstmal wollt ich sagen, dass es mir leid tut. Sorry Kevin, war nicht so gemeint. Und mir geht's so lala. Ich will auch keinen Stuhl mitnehmen und ich glaube, ich muss nochmal nachdenken über das mit den Zetteln. Müssen wir die mitnehmen oder schmeißen Sie die weg?"
Sprachlos über die plötzliche Einsicht hebe ich die Augenbrauen, dann finde ich meine Stimme aber schnell wieder:
"Weder noch. Ich bewahre sie bis zum nächsten Mal für euch auf. Kevin, machst du noch den Abschluss?"
Sofort sitzt Kevin wieder kerzengerade und nickt hastig, knetet seine Hände und holt Luft.
"Ich, äh. Also, es war ganz ok, denke ich, ähm. Ja. Ich war zwar aufgeregt, aber- aber es war nicht so schlimm", sagt er und bestätigt seine Worte dann noch durch ein gedankenverlorenes Nicken.
Kurz bevor alle aufstehen schließe ich die Runde mit den Worten:
"Danke für eure Mitarbeit! Und nicht vergessen, nächste Woche zum selben Zeitpunkt - selber Tag, selbe Uhrzeit - treffen wir uns wieder genau hier, am selben Ort. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag und bis zum nächsten Mal könnt ihr euch überlegen, was ihr persönlich mit den Zetteln machen wollt, wenn ich sie euch wiedergebe. Guten Heimweg und meldet euch doch auf Station zurück, wenn ihr dort seid!"
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Regenkinder
General Fiction"Wir sind die Kinder, vor denen dich deine Eltern gewarnt haben." #nojusa Vier Jungs, vier Schicksale; vier zerplatzte Träume und ein leerstehender Wohnwagen. #47 in Aktuelle Literatur am 4. September '17