Kapitel 5

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Eine raue Hand legte sich auf meine Schulter und verweilte dort, bis ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte. Als ich schließlich aufsah, blickte ich in zwei kleine grüne Äuglein, die durch das blasse Gesicht umso leuchtender erschienen. "Mr Smitherson, es geht schon", murmelte ich, während ich mir mit dem Handrücken über die Augen wischte. "Es kam nur alles so plötzlich auf in mir." Er nickte verständnisvoll, bevor er neben mir in die Knie ging. "Nenn mich ruhig Matthew." Er kräuselte seine Lippen zu einem Lächeln, das seine runzligen Falten tanzen ließ. Ich nickte nur und für eine Weile legte sich eine betretene Stille über uns. "Warum wurde Ihre Frau nicht mit dem Namen Smitherson begraben, Matthew", flüsterte ich schließlich, wobei meine Augen noch immer auf den bemoosten Grabstein gerichtet waren. "Sie hat bei der Hochzeit ihren alten Namen behalten. Sie mochte ihn lieber und wollte nicht, dass er ausstirbt", flüsterte Matthew genauso leise zurück. "Achso." Wieder schwiegen wir uns an. Hier auf dem Friedhof schien es mir, als ob die Zeit still stünde, als ob die Welt aufhörte, sich zu drehen. Hier herrschte Totenstille. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Das einzige, was rannte, waren die kleinen Schweißperlen, die von meiner Stirn aus über mein Gesicht liefen. Es war wirklich schrecklich heiß. "Sie ist meine Schwester", sagte ich dann mit einem trockenen Nicken auf Ruby's Grab. "Das tut mir Leid." Ich seufzte zittrig. Ich war den Tränen erneut gefährlich nahe. "Letztes Jahr ist sie ertrunken." Eine einsamer, salziger Tropfen besudelte mein Gesicht. "Du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst", meinte Matthew, doch seine Stimme war so vertrauenserweckend, dass ich nicht anders konnte, als ihm mein Herz auszuschütten. "Ich mache mir einfach solche Vorwürfe. Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen, verstehen Sie? Sie war meine große Schwester, wir haben uns ein Zimmer geteilt und ich war die einzige in dieser Nacht, die wusste, dass sie aufbrechen wollte. Mit fremden Jungen und Mädchen wilde Strandpartys feiern, Zigaretten oder schlimmeres rauchen, Alkohol trinken und um das Lagerfeuer tanzen. Wie so oft." Meine Stimme brach ab. Plötzlich sah ich sie wieder vor mir, ihr perfekter Körper mit den endlos langen, schlanken Beinen und den üppigen Kurven. Die roten Locken im Nachtwind wehend, wie sie auf dem Fensterbrett saß in ihrem kurzen Jeansrock und dem rosa Hemdchen. Ich konnte ihren bohrenden Blick spüren und ihre Stimme hören, wie sie mich anschrie. "Ich musste ihr immer und immer wieder schwören, sie nicht zu verraten. Natürlich haben Mum und Dad nach und nach mitbekommen, dass sie sich des Nachts irgendwo herumtreibt, aber sie konnten nichts unternehmen, weil ich entweder schwieg wie ein Grab oder vorgab, schon geschlafen zu haben." In meinen Gedanken hopste sie vom Sims und schritt davon, anmutig, schön. Und in meinen Gedanken stand ich am Fenster, sah ihr hinterher und rieb mir die schmerzende Stelle am Arm, an der ihre blassen, schlanken Finger mich drohend gepackt hatten. "Ich hab's getan, obwohl es falsch war. Alles war falsch. Es wäre falsch gewesen, den Schwur zu brechen, aber andererseits war es falsch, Mum und Dad nichts zu erzählen. Ich war eine schlechte Schwester. Ich meine, sie könnte noch am Leben sein, wäre ich nicht so ein Feigling gewesen." Matthew begann, meinen Rücken zu streicheln. Dann zog er mich hoch. "Lass uns zum Strand gehen." Nickend hakte ich mich bei ihm ein, erleichtert darüber, diesen schrecklichen Ort zu verlassen. "Die Tage danach waren die schlimmsten. Sie war einfach weg. Wie in Luft aufgelöst. Das waren die Tage, in denen aus meiner lebensfreudigen  Mum ein Gespenst wurde und in denen ich lernte, meine Gefühle mit einem Lächeln zu überspielen." Für den letzten Teil meines Vortrages holte ich besonders tief Luft. Es mochte sein, dass ich in nur wenigen Jahren über Ruby sprechen konnte wie über ein verlorenes Kuscheltier, aber noch waren die Worte, die ihren Tod beschrieben, etwas unwohles, wie eine viel zu Hohe Hürde, für die ich einen extra Anlauf brauchte. "Vierzehn Tage hat man nach ihr gesucht. Zum Schluss schickte man Taucher ins Meer, die sie dann auch gefunden haben. Sie schwamm Unterwasser, weil sie zu viel Wasser geschluckt hatte. Ruby sah aus wie aus Porzellan. Wie eine Puppe. Sie war ohnehin schon ein bleicher Mensch, aber als sie sie aus dem Wasser fischten, war sie weiß. Auch die Augen waren heller als sonst. So regungslos, weit aufgerissen. Nicht das übliche grün. Die Taucher meinten, das käme vom ganzen Wasser. Und ihre Lippen waren grau und aufgeplustert. Trotzdem sah sie immer noch wunderhübsch aus, weder wie eine Wasserleiche, noch wie meine Schwester." Bei der Erinnerung an ihren steifen Körper wurde mir heiß und kalt zugleich. Inzwischen waren Matthew und ich am Strand angekommen. Er war voller Muscheln und Kies, hier und da ein paar grüne Netze. Der Geruch von totem Fisch war hier fast unerträglich. Mein Atem beschleunigte sich, als mein unruhiger Blick über das Meer hetzte. Aus irgendeinem Grund musste ich an das Wassermädchen denken und mich beschlich die leise Sorge, sie könne uns beobachten. Matthew bückte sich ächzend, um einen flachen Stein aufzuheben, den er mit einem gekonnten Wurf über das, von der Sonne glitzernde Meer hüpfen ließ. "Ich denke nicht, dass du dir Vorwürfe machen musst." Ich blinzelte überrascht. "Im Endeffekt kommt es immer so, wie es kommen soll und du kannst es nicht mehr ändern." Er warf einen weiteren Stein. "Wissen Sie, wer das Gras Ihrer Frau bepflanzt?", wechselte ich schließlich das Thema, da ich von meinen eigenen Erinnerungen ablenken wollte. Matthew hielt inne und drehte sich langsam zu mir um. "Nein", sagte er leise. "Das weiß ich nicht. Aber ich will es unbedingt herausfinden, weißt du? So weit ich weiß ist Bethany's Familie verstorben, sie war schließlich ein Einzelkind. Wer auch immer das tut, ich will ihm danken." Er lächelte traurig. "Wer könnte das denn sein?", grübelte ich, während ich mit schnellen Schritten zum Wasser lief, um wenigstens meine Füße zu kühlen. "Vielleicht fragen wir einen Einwohner. Wenn hier tatsächlich so wenig Tourismus herrscht, müsste ein Fremder, der regelmäßig den Friedhof besucht, doch auffallen." Ich gab einen Laut von mir, der halb Schnauben, halb Lachen war. "Matthew! Wo denken Sie hin? Niemals würde ein Einwohner Ihnen so etwas erzählen, glauben Sie mir. Und was wenn es überhaupt kein Fremder ist, sondern derjenige, der sich um Bethany's Grab kümmert, selbst in Port Isaac lebt? Es könnte sich dabei doch um eine gute Freundin Ihrer Frau handeln, die noch lebt." Matthew schien nachzudenken. "Du hast recht", sagte er gedehnt. "Die Frage ist nur: Wer könnte das sein?" "Ich bin sicher, das kann man rausfinden. Es dauert nur etwas länger. Sie könnten zum Beispiel eine versteckte Kamera installieren, oder einen Privatdetektiv einstellen, oder aber Sie sehen in den Briefen Ihrer Frau nach, ob es sich um irgendeine Freundin handeln könnte. Oder Sie lassen es bleiben. Die Frage ist eben nur, wie wichtig es Ihnen ist, das herauszufinden." Ich sah ihn eine Weile prüfend an, dann bückte ich mich nach einer schillernden Muschel. Ein schönes Exemplar. Vielleicht würde ich sie dem Wassermädchen mitbringen, als kleines Dankeschön für ihre Einladung. Es war nicht so, dass ich mich freute, sie zu besuchen, nur, das musste sie ja nicht wissen. "Privatdetektiv?", wiederholte Matthew. "Versteckte Kamera?" Er schüttelte den Kopf. "Das kostet doch alles ein Heidengeld. Es muss doch noch andere Wege geben. Welche ohne Beschattung und Detektive." Jetzt war ich diejenige, die ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte. "Ja, bestimmt. Ich helfe Ihnen." "Wirklich?" Sein Strahlen sah so erfreut und so süß aus, dass ich selbst schmunzeln musste. Und ich wusste, dass es die richtige Entscheidung war, ihm zu helfen - wenigstens hatte er dann jemanden, mit dem er über Bethany reden konnte. "Kommen Sie." Ich fasste seinen Arm und zog ihn Richtung Ortsausgang. "Gehen wir zurück zum Hotel."

*

Dean kam mir mit seinem Surfbrett unterm Arm entgegengejoggt. Seine Haare waren nass und zerzaust, sein Gesicht übersäht von perlenden Wassertropfen und die Badeshorts klebten an seinen Beinen. Die Mädchen, die sich in ihren Bikinis in der prallen Hitze sonnten, sahen ihm nicht nur einmal schmachtend hinterher. Hier und da fing ich sogar ein paar vernichtende Blicke auf, als Dean vor mir zum Stehen kam und mich anlächelte. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich seine Schwester war. "Wo warst du denn?", fragte Dean vorwurfsvoll und schüttelte seinen Kopf wie ein nasser Hund. "Du musst seit einer Stunde zurück sein. Mum musste den Adams das Hotel zeigen und Jenson war gezwungen, sein Schwimmtraining abzusagen, um für die Zeit an der Rezeption zu stehen." Ich blickte in seine Augen, die von einem nassen Wimpernkranz umgeben waren. "Ich war bei Ruby's Grab." Dean sah mich ungläubig an. "Mum sagte, du seist mit dem alten Smitherson nach Port Isaac gefahren." "Zum Grab seiner toten Frau, ja. Und nenn ihn nicht 'den Alten'. Matthew ist sehr nett und er tat mir leid. Außerdem hat er mich getröstet, als ich geweint habe." Meine Wangen brannten, und zwar nicht von der Sonne. Es war Wut. Wo sie herkam, konnte ich mir selbst nicht erklären, aber aus irgendeinem Grund brodelte sie in mir. "Ach, jetzt darfst du ihn sogar beim Vornamen nennen? Mensch Holly, du hast Verantwortung zu tragen! Du musst deine Schichten erfüllen und nicht mit den Gästen rumfahren, wenn's dir Spaß macht!" Ich stemmte erbost die Hände in die Hüften. "Jetzt hör mir mal gut zu, großer Bruder! Ich arbeite mehr als du und Jenson zusammen, weil ihr beide ständig surfen oder schwimmen geht. Und ich habe Verständnis dafür. Aber ich habe kein Verständnis dafür, dass ich keine Freizeit haben soll, dass ich nicht mal das Grab meiner Schwester besuchen darf! Dean, ich bin fünfzehn! Ich bin viel reifer, als ich es eigentlich sein dürfte, viel zu erwachsen, weil Mum ihre Rolle als Mutter nicht mehr wahrnimmt und ich bis spät in die Nacht im Hotel schufte. Meinst du, das ist das Leben, das ich mir wünsche? Nein, das ist verantwortungslos und zwar eurerseits!" Um uns herum hatten sich ein paar schaulistige Zuschauer versammelt, der Großteil von ihnen waren Mädchen, die ihre Freude kaum unterdrücken konnten. Dean starrte mich fassungslos an, klappte den Mund auf und wieder zu, bis er sich schließlich dazu entschloss, zu schweigen. Ich wusste selber nicht, wo ich auf einmal diesen Mut, dieses Selbstbewusstsein genommen hatte, aber wo auch immer es herkam, es war weg und ich war wieder das schüchterne, kleine Mädchen mit den honigblonden Haaren und den warmen braunen Augen, das lächelte, damit es nicht bemitleidet wurde. "Entschuldigung", murmelte ich, mehr zu mir selbst, ehe ich mich umdrehte und die Leute beiseite schob, um den Strand zum Hotel hinaufzurennen. Auf dem Weg nach oben zuckten feuerrote Locken über mein Blickfeld, aber ich beachtete sie nicht, weil sie im nächsten Moment schon wieder verschwunden waren.

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