Kapitel 23

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Damals, als die Polizisten an unserer Tür aufgetaucht waren, um uns zu sagen, dass sie Rubys Leiche gefunden hatten, war aus meiner Mutter ein Gespenst geworden. Sie hielt ein Blech Lasagne in der Hand, doch als die Polizisten zuende berichtet hatten, ließ sie das Blech einfach fallen. Ihr Gesicht wurde weiß und sie stieß einen Schwall Luft aus, mit dem auch ihre Lebhaftigkeit, ihre Fürsorge ihren Körper verließ. Meine Brüder und ich weinten, wir brauchten jemanden, der uns eine Richtung gab und der uns festhielt, aber Mum hatte uns einfach ignoriert. Wochenlang sprach sie mit niemandem, saß im Wohnzimmer, starrte auf das Meer und wurde immer dünner und stiller. Ein einziges Mal hatte ich sie Weinen gehört, als sie mit meinem Vater im Garten Unkraut jätete. Dad kümmerte sich um sie und versuchte gleichzeitig, ihre Liebe durch seine zu ersetzen, aber es war nicht dasselbe. Wir halfen uns gegenseitig aus dem Loch, in das wir gefallen waren. Dean, Jenson und ich nahmen die Sache mit der Beerdigung in die Hand, weil wir Dad nicht unnötig stressen wollten, und das einzige, was Mum dazu sagte, war, dass sie wollte, dass Ruby in Port Isaac beerdigt wurde. So weit weg von uns wie möglich. Sie war nie auf der Beerdigung ihrer Tochter aufgetaucht, aber wir redeten uns ein, ihr das nicht übel zu nehmen. Danach hatte Mum nie wieder gelacht und nie wieder Lasagne gekocht.

Ich hatte Angst, dass es jetzt wieder so sein würde wie damals: Dass sie eine andere Person wurde. Ich war mir sicher, dass der Anblick des Wassermädchens etwas in ihr auslösen würde, nur wusste ich nicht genau, was. Nachdem das Wassermädchen vor unserer Tür zum Stehen kam, setzte sie mich sanft ab und legte ihren Arm um meine Schultern. Er war schwer und heiß, viel zu schwer und viel zu heiß, aber ich hielt mich tapfer. Ihr langer Finger wanderte zu dem vergoldeten Klingelknopf und drückte zu. Die Haustür wurde sofort aufgerissen, als wartete Mum den ganzen Tag auf diesen Moment. Ich kniff die Augen zu, aber als ich sie schreien hörte, öffnete ich sie wieder. Mum wollte die Tür zuknallen, doch das Wassermädchen setzte blitschnell ihren Fuß dazwischen. "Halt!", schrie sie, als Mum sich umdrehte, um wegzurennen. Sie packte sie am Ärmel und zog sie zurück. Ich schwankte und ihr Arm auf meiner Schulter wurde noch schwerer. Meine Beine zitterten. "Holly!", sagte Mum, als sie mich entdeckte. Ihre Stimme klang erleichtert. Kurz darauf hatte sie ihre Arme um mich geschlungen und mich ins Haus gezogen. Sie weinte. "Ich habe mir so Sorgen gemacht! Ich dachte, du wärest..." Sie schluckte das Wort hinunter und streckte mich von sich, um mich ansehen zu können. Tränen strömten über ihr Gesicht. "Ich wollte die Polizei rufen, aber dein Dad meinte, wir sollten warten." Sie schlug sich die Hand vor den Mund. "Ich hab mir solche Vorwürfe gemacht!" So viel redete sie sonst nicht mal in zwei Wochen. Sie musste wirklich aufgewühlt sein. Das Wassermädchen räusperte sich und machte diesen Moment zunichte. Ich warf ihr einen warnenden Blick zu, aber sie tat, als würde sie das nicht sehen. Mum sah sie mit schreckgeweiteten Augen an. "Ruby", brachte sie keuchend hervor und ich erwartete, dass das Wassermädchen ihr diesen Gedanken wieder ausredete, aber diese Arbeit schien sie sich nicht machen zu wollen. "So, Mama Holly, wir müssen einiges besprechen", sagte sie und fasste Mum grob am Arm. Ich wollte etwas sagen, doch bekam ich den Mund nicht auf. Schwarze Flecken jagten über mein Blickfeld. Mum stöhnte auf, gelähmt vor Schreck. "Holly war bei mir", erklärte das Wassermädchen und zeigte ein Lächeln mit zu vielen, zu spitzen Zähnen. Sie war immer noch das gleiche Raubtier. Sie würde sich nicht vor meiner Mutter ändern. "Warum?", stieß Mum keuchend hervor. Ich wusste nicht recht, was genau sie mit dieser Frage meinte. Es konnte alles sein. Warum ich bei dem Wassermädchen war. Warum Ruby - sie hielt sie ganz offensichtlich für ihre Tochter - noch lebte. Warum sie mir damals nicht geglaubt hatte, als ich sagte, ich hätte Ruby gesehen. Inzwischen wusste ich es besser, aber ich war zu schwach, um es zu erklären. "Sie fühlt sich hier nicht mehr wohl", sagte das Wassermädchen mit bedrohlich ruhiger Stimme. In ihren Augen loderte der Zorn, als sie ihre Hände um Mum's Hals legte. Ich schnappte nach Luft. "Nicht!" Sie ignorierte mich und Mums Augen füllten sich mit Tränen. "Was geht hier vor?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. "Du bist eine schlechte Mutter", sagte das Wassermädchen geradeheraus. Sie machte Mum so rücksichtslos fertig, wie sie es mit mir getan hatte. Nur konnte meine Mutter bei Weitem nicht so viel ertragen wie ich. Mum schluckte schwer. "Seit deine Tochter verschwunden ist, scherst du dich einen Dreck um deine Kinder! Und jetzt, wo Holly eine Nacht vor dir flüchtet, machst du dir Vorwürfe? Erst jetzt?" Für den Bruchteil einer Sekunde war ich verblüfft. Woher nahm sie diese Informationen? Ich hatte nie so intensiv mit ihr über die Zeit nach Rubys Verschwinden geredet. Aber dann sah ich, wie Mums Gesicht bebte - und sie tat mir schrecklich leid. Ich wollte dazwischen gehen, ihr helfen, aber ich konnte nicht. Mein Körper war gelähmt. "Das stimmt nicht", keuchte Mum und schluckte mit geschlossenen Augen. "Ich war krank." Das Wassermädchen verengte ihre Augen zu Schlitzen. "Das ist eine miese Ausrede, Rachel." Ich glaubte, meiner Mutter wurde bewusst, dass es sich bei dem Mädchen, das vor ihr stand, nicht um Ruby handelte. Sie ahnte, dass sie sonderbar war und weit mehr wusste, als eine Fremde wissen sollte, aber es war nicht ihre Tochter. Ich hielt die Luft an. "Wenn du Holly nicht sofort wieder erlaubst, rauszugehen und Spaß zu haben, wirst du ernsthafte Probleme mit mir bekommen. Damit das klar ist. Ich habe euch im Blick und sehe, wie du deine Kinder behandelst. Ich will, dass du wieder eine annehmbare Mutter wirst, ist das klar?" Das Wassermädchen nahm die Hände von Mums Hals und ich atmete auf. Sie warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte, dann machte sie einen Schritt auf meine Mutter zu, sodass ihre Nasenspitzen sich berührten. Mum sah ihr ängstlich in die Augen. "Einverstanden", presste sie hervor. Das Wassermädchen grinste ihr hungriges Lächeln. "Gut." Sie wandte sich zur Tür um, wobei sie mir einen Klaps auf die Schulter verpasste. "Gute Besserung, Schätzchen. Wir sehen uns." Sie öffnete die Tür und trat in die Mittagssonne hinaus. Bevor sie ging, drehte sie sich blitzschnell um. Ihre Augen stierten sich in Rachels. "Auf Wiedersehen, Mommy." Ihr Ton klang verächtlich und gehässig. Kurz darauf knallte die Haustür und ich fuhr auf. Leben kam in mich. "Mum!" Ich fasste ihre Schultern. "Bist du okay?" Sie nickte kaum merklich. Mit den Fingern berührte sie vorsichtig ihren Hals, wo die Hände des Wassermädchens rote Abdrücke hinterlassen hatten. "Ist das gerade wirklich passiert?", hauchte sie. Ich nickte schwach, und obgleich mir schwindelig war, nahm ich sie in die Arme. "Es tut mir so leid, dass ich dir Angst eingejagt habe", flüsterte ich zerknirscht. Dass ich für mein Fehlen nichts konnte, hatte ich selbst schon fast vergessen. Mum streichelte schniefend meinen Rücken. "Nein, Schatz. Mir tut es leid." Und zum ersten Mal seit zwei Jahren klang sie wieder wie eine Mutter. Ich erlaubte mir die winzige Hoffnung, dass es zwischen uns wieder anders werden würde. Besser. Dass aus diesem Haushalt wieder eine richtige Familie werden würde.

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So, da wären wir. Wie findet ihr die Aktion des Wassermädchens? Und was meint ihr, wird Hollies verkorkstes Leben wieder eine Form annehmen? ♥ Schreibt es in die Kommis! Lieb euch. ♥♥

P.S.: Danke für über 120.000 Klicks. *-* Schaffen wir mehr? ★

Königin des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt