Kapitel 10

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Abigail hüpfte vor mir auf und ab wie ein Flummi, während ich geschäftig durch die Suit lief, die Möbel von Staub befreite und die Decken aufschlug. Dad hatte mehrmals betont, dass alles perfekt für Neerman's hergerichtet sein musste. Ich hatte des Wassermädchen's Glashaus verlassen, nachdem sie sich über Mum aufgeregt hatte und sofort Abigail herbestellt, die nun jedes noch so kleine Detail aus mir herauszuquetschen versuchte. "Warum hast du nicht nach ihrem Namen gefragt?" Abigail strich sich eine Strähne hinters Ohr, die immer und immer wieder aus ihrer Frisur rausrutschte. "Habe ich!", erwiderte ich, während ich begann, den schweren, mit Holz umrahmten Spiegel zu entstauben. "Und?" Ich stöhnte entnervt auf. "Sie wollte mir ihren Namen nicht nennen, wie oft noch?" Abigail ließ sich rücklings auf das Bett fallen, ohne Rücksicht auf meine minutenlange Feinarbeit zu nehmen, in der ich die Kissen darauf aufgestapelt hatte. Eine kleine, weiße Feder segelte durch den Raum. "Weil sie wissen will, ob sie dir vertrauen kann", murmelte meine Freundin grüblerisch, dann schoss die Spitze ihres Zeigefingers in meinen Bauch. "Zeig ihr, dass sie dir vertrauen kann!" "Aua!", stieß ich hervor und funkelte sie böse an. "Ja schön", wetterte ich dann. "Wie denn? Wie zeigt man einer Person, die plötzlich aus dem Meer auftaucht und womöglich gar kein Lebewesen dieses Planeten ist, dass sie einem vertrauen kann? Wohl kaum, indem man hergeht und sagt: 'Hey, verrat mir deinen Namen, der anscheinend das größte Geheimnis ist'." So, oder wie?" Abigail sah mich vollkommen unbeeindruckt an. Sie kannte mich und wusste, dass ich meine Wut unabsichtlich an ihr ausließ. Und das beste: sie hatte Verständnis dafür. Eine bessere Freundin als sie konnte es überhaupt nicht geben. "So würde ich's machen", sagte sie schließlich und räkelte sich auf der Matratze. "Nein, natürlich nicht!", rief sie dann. "Du musst sie öfter treffen. Du musst sie dazu bringen, dich zu mögen. Und du musst herausfinden, welche Themen ihr unangenehm sind und diese dann immer wieder ansprechen." Gedankenverloren legte ich den Kopf schief. Konnte das hinhauen? Der Plan war so simpel, es musste einfach einen  Haken geben. "Die Themen, die ihr unangenehm sind, kann ich dir jetzt schon nennen", sagte ich schroff. "Alles, was sie betrifft. Auf alles, was sie betrifft, bekomme ich keine Antwort. Ich habe das Gefühl, sie will erst alles über mich wissen. Und erst, wenn sie alles über mich weiß, kann sie entscheiden, ob ich als Vertrauensperson infrage komme." Ich ließ mich neben Abigail auf das Bett sinken, nahm mir die Wasserflasche vom Nachttisch und trank einen großen Schluck. "Dann erzähl ihr alles", sagte Abigail ruhig. "Du hast schließlich nichts zu verbergen. Hast nie geklaut, niemanden umgebracht, niemanden benachteiligt. Was kann es schaden, wenn sie dich kennt?" Ich betrachtete die kleinen Bläschen, die vom Grund der Flasche zur Oberfläche aufstiegen. Was es schaden konnte? Ich musste mich öffnen. Gerade das, was ich seit Ruby's Tod zu verhindern versuchte, gerade meine größte Angst. Aber andererseits... hatte ich mich dem Mädchen mit den roten Locken nicht schon geöffnet? Immerhin hatte ich ihr von meiner Schwester erzählt, und etwas schlimmeres gab es nicht. Nicht für mich. Ein Teil von mir vertraute ihr wohl schon jetzt blind. "Ja, das ist eine Lösung." Ich nickte. "Ich kann es zumindest versuchen." Danach half sie mir endlich und nach anderthalb weiteren Stunden blinkte die Suit so sauber wie noch nie. Zur Belohnung schlenderten Abigail und ich zu den bunten Eisbuden am Strand und kauften Drachenfruchteis. Drachenfruchteis war eine Spezialität an diesem Strand, ebenso wie Bananen und Kiwieis. Zusammen setzten wir uns in den Sand, betrachteten die Touristen, die in der Mittagshitze brieten, schauten den wenigen Surfern zu, die sich im wilden Seegang vergnügten und entdeckten schließlich Dean, der lässig an der Theke einer Strandbar lehnte und mit einem Mädchen seines Alters flirtete. Abigail sah mich vielsagend an. "So viel zum Thema: er hat keine Freundin." "Hat er ja auch nicht", gab ich seufzend zurück. "Er macht ihr bloß Hoffnungen, um sie dann abzuschießen, wenn sie mehr will. Nicht sehr statthaft, aber die ganzen Mädchen fallen trotzdem drauf rein." Abigail legte den Kopf schief, während ihr ein Tropfen geschmolzenes Eis auf's Knie tropfte. "Ach", meinte sie schließlich, "ich würde auch drauf reinfallen." "Red keinen Unsinn", scheltete ich sie. "Du hast Finley und der ist bei Weitem besser als mein Bruder. Was den Umgang mit Mädchen angeht", fügte ich hinzu. Ich wollte nicht so über meinen Bruder herziehen, denn in Wirklichkeit war er echt nett. Nur die Tatsache, wie er mit den Mädchen spielte, missfiel mir. Es war zu unnahbar, es machte ihn falsch, was man ihm vielleicht nicht ansehen mochte. "Hätte ich Finley nicht kennengelernt, wäre ich irgendwann auf ihn gekommen. Wer bliebe auch anderes übrig? Jenson lässt ja niemanden an sich ran und die hübschen Jungen sind entweder Charakterschweine oder interessieren sich nur für Sport und Computerspiele. Oder ich war schon mit ihnen zusammen." "Dean ist fünf Jahre älter als du!", rief ich empört, schlug mir im nächsten Moment jedoch die Hand vor den Mund. Ich hätte nicht so laut sein dürfen! Verstohlen blickte ich mich um, doch niemand schien unser Gespräch bemerkt zu haben. "Übernächsten Samstag nur noch vier", kicherte Abigail und biss sich auf die Unterlippe. "Trotzdem." Ich schüttelte den Kopf. "Wenn niemand übrig bliebe, wie wär's dann mit einem entspannten Leben als Single?" Abigail prustete los. "Entspannt?" Sie tippte sich den Zeigefinger gegen die Stirn. "Du bist Single - und was soll entspannt daran sein, dass du anderleuts Grabpflegern nachspionieren musst, ein Hotel halb managest und obendrein auf eine Fremde triffst, die in irgendeinem Sinne was mit deiner verstorbenen Schwester zu tun haben muss? Also bitte, da habe ich ja lieber Liebeskummer." "Den du nicht haben brauchst, weil du mit Finley zusammen bist und das alles nur Annahmen sind", erwiderte ich gereizt. "Stimmt", antwortete Abigail und verschlang ihren letzten Happen Eis. Schließlich klopfte sie sich die Hände an der Hose ab, stand auf und sah auf mich herab. "Ich bin in einer Stunde mit Finley verabredet." "Man sieht sich." Ich blinzelte ihr entgegen. "Ja." Sie wuschelte mir ein letztes Mal durch die Haare, dann stieg sie den Strand hinauf und lief im Laufschritt die Promenade entlang. Stimmte das? War mein Leben wirklich so verkorkst? Gut, es passierte ziemlich viel in letzter Zeit, doch die Ereignisse wären nicht ausgeblieben, wenn ich einen Freund gehabt hätte. Nein, die Dinge nahmen ihren Lauf, ob man wollte oder nicht. Theoretisch hätte Abigail dasselbe passieren können, mit oder ohne Freund.

Ich vergrub meine Zehen im heißen Sand, während ich Dean und das Mädchen an der Bar beobachtete. Ein Jammer wäre das, wenn er sie auch hängen lassen würde. Eine Weile wägte ich sogar ab, ob ich hingehen und sie warnen sollte, aber das kam mir irgendwie albern vor. Daher schloss ich die Augen, lauschte dem Rauschen der Wellen und genoss die freien Stunden. So saß ich auch noch da, als die Sonne hinter dem Meer verschwand und Platz für den Mond machte. Als all die Leute den Strand längst verlassen hatten, als die Eisbuden schon geschlossen hatten. "Hey." Ich hätte zusammenzucken sollen vor Schreck, doch die melodische, weiche Stimme war mir wohl zu vertraut. Es war das blonde Mädchen von letztens und natürlich hatte sie ihre Freunde mitgebracht. Ich sah zu ihr auf, die Augen blitzten. "Willst du tanzen?" Ohne zu zögern nickte ich und erhob mich. Denn ich wollte tatsächlich tanzen.

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