Kapitel 34

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Zuhause wartete Abigail auf mich. Sie kam mir gleich entgegengesprungen, sobald ich die Lobby betreten hatte, und umarmte mich mit einer Herzlichkeit, die nicht einmal Poppy an den Tag legen konnte. "Was ist los?", fragte ich verwirrt. Abigail warf ihr duftendes Haar zurück und arrangierte ihre rote Halskette neu. "Hör zu, Süße! Dein Dad hat gesagt, wir dürfen die Zimmer schön machen, die heute frei geworden sind. Du weißt schon, mit Bettwäsche und eurem obligatorischen Toilettenpapier-Schwan." Ich blinzelte. "Ja, und?" Abigail stemmte beide Ellbogen in ihre Seite. "Holly Spencer, dürfte ich fragen, warum du so schlecht gelaunt bist?" Sie fasste mich am Arm, um mich zum Aufzug zu zerren, sah mich aber weiterhin streng an. Ich seufzte lang und tief. "Es gibt einiges, das ich dir erzählen muss." "Gott sei Dank!" Abigail zog mich durch die sich öffnenden Aufzugstüren. Im Spiegel fuhr sie sich durch die Haare, wobei sie meinen Blick auffing und zaghaft lächelte. "Und ich dachte schon, die letzten vierundzwanzig Stunden waren bei dir genauso langweilig wie bei mir." Erschöpft lehnte ich mich gegen die verspiegelte Wand. "Ganz und gar nicht", murmelte ich, während ich die Augen schloss. Abigail rüttelte sogleich an meiner Schulter. "He, nicht einschlafen! Wir sind angekommen." Mehr schlecht als recht schlurfte ich hinter ihr auf den roten Teppich im ersten Stock, wo Anigail neugierig Rubys Rock betatschte. "Cool", stellte sie fest. "Woher hast du den?" "Ruby", sagte ich knapp und zog meine Freundin am Ärmel in den Personalraum, wo ein Wagen voll frischer Handtücher auf uns wartete. Abigail quietschte begeistert auf, ehe sie zwischen den Wagen verschwand. Ich stöhnte auf. "Hiergeblieben!" Aber meine Freundin hatte sich schon an einer Kiste bedient, in der die Kleider für die Angestellten lagen. Mit begeisterter Miene hielt sie mir ein hellblaues Kleid mit weißer Schürze vor die Nase. "Können wir die tragen?" Ich wühlte in der Kiste, unterdrückte ein Niesen, und hielt ihr schließlich eine weiße Haube mit Rüschen entgegen. "Die gehört auch dazu." Ich rieb mir über die juckende Nase. "Geil." Abigail war bereits dabei, sich aus ihrem Oberteil zu schälen. Nachdem sie sich das Kleid übergeworfen hatte, schlüpfte sie auch aus ihren Shorts und kickte sie achtlos in die Ecke. Vor dem Spiegel setzte sie sich die Haube auf. "Ehrlich, wie im Film." Strahlend drehte sie sich zu mir um. "Wie seh' ich aus?" Sie strich sich über das Kleid, aber es warf trotzdem Falten. Zum ersten Mal an diesem Tag musste ich kichern. "Heiß." Zufrieden mit meiner Antwort schob Abigail sich wieder auf den Flur hinaus. Ich ging hinter ihr her, vergaß den Handtuchwagen jedoch nicht. Das Ding war ziemlich schwer, wenn es voll beladen war, aber meine Freundin machte keine Anstalten sich zu beteiligen, sondern lief leichtfüßig vor mir her. Sie hüpfte bei jedem zweiten Schritt. Die Putzfrauen, die uns mit zwei Eimern Dreckwasser und einem Wagen mit schmutzigen Handtüchern entgegen kamen, warfen einander verständnislose Blicke zu. "Abigail", raunte ich meiner Freundin zu, doch sie tat, als hörte sie mich nicht. "Du hast mich neugierig gemacht", sagte sie, während sie die Tür zu Zimmer Nummer 23 aufstieß. Ich zwang mich mitsamt des Handtuchwagens durch die Angeln. "Na ja", begann ich und pustete mir eine lästige Strähne aus dem Gesicht. "Ich war schwimmen. Nachts. Mit dem Wassermädchen." Abigails Kopf wirbelte umher, um mich mit großen Augen anzustarren. "Wie bitte?" Ich nickte kläglich, bei der Erinnerung wurde mir ganz kalt. "Nicht freiwillig, Abigail. Sie hat mich mit einer Puppe reingelockt, die aussah wie eine Kinderleiche. Und dann kam sie und war ziemlich eigenartig." "Dieses Mädchen ist immer eigenartig", sagte Abigail, während sie vehement den Kopf schüttelte. "Sie war aber noch merkwürdiger als sonst", beteuerte ich. "Erst, als ich aus dem Wasser gehetzt war, wurde sie wieder 'normal' und meinte, sie wolle mir nur etwas zeigen. Damit ich das alles besser verstehen kann." "Und?", fragte Abigail atemlos. Ich holte scharf Luft und öffnete die Badezimmertür, um die neuen Handtücher an den Haken zu hängen. Abigail warf derweil die leere Klopapierrolle in den Müll. "Ich glaube, dass da ein Zusammenhang mit Ruby besteht." Ich ließ die angehaltene Luft in einem Schwall raus und sah meine Freundin abwartend an. Sie nickte. "Das befürchte ich auch schon die ganze Zeit." "Ich war bei Nathan und den anderen, um mit ihm zu reden. Er war ja mit Ruby zusammen, kurz bevor sie... Ja, jedenfalls wollte ich ihn genau deswegen fragen, ob sie ihm etwas anvertraut hat, oder so, aber er will sie nicht verraten." Ich leerte den Müll, ehe ich einen neuen Beutel einhängte und mich zu Abigail umsah, die mit vorgestippter Zunge im Türrahmen lehnte. Ich konnte die winzigen Rädchen in ihrem Gehirn förmlich rattern hören, als sie konzentriert die Augen schloss, um nachzudenken. Inzwischen hatte ich auch den Seifenspender aufgefüllt und den Abfluss der Dusche gesäubert. Vorsichtig, um sie nicht zu stören, schob ich mich an meiner Freundin vorbei ins Zimmer zurück, wo ich Spiegel, Fernseher und die Nachtschränkchen entstaubte. Als Abigail wieder etwas sagte, hatte ich auch schon ein neues Laken übergezogen. "Du musst herausfinden, was da gewesen ist." Ich drehte mich zu ihr um. "Das ist alles?" Nach den Minuten des Nachdenkens hatte ich mir eine etwas weniger vage Antwort gewünscht. Ja, im Gegenteil, ich hatte mit dem perfekten Plan gerechnet. Ich konnte nicht anders, als ein bisschen enttäuscht zu sein. "So weit war ich auch schon, glaub mir", sagte ich, während ich mich resigniert schnaubend in einen der rosa gepolsterten Sessel plumpsen ließ. Die Wirkung meines doppelten Espressos ließ langsam nach, denn ich merkte, wie meine Augen wieder schwer und träge wurden. Abigail hockte sich vor mir auf den Boden und legte mir mitleidig ihre Hände auf die Knie. "Ach, Holly-Bubsi-Mausi. Der wird sich schon wieder einkriegen. Aber weißt du, was mich noch immer vom Hocker haut?" Ich sah sie an, wie sie die Stirn besorgt runzelte und sich über die Lippen leckte. Langsam schüttelte ich den Kopf. Was kam jetzt? "Dass Poppy deine Schwester ist!" Abigail war nun wieder aufgestanden, um ihre Arme in die Luft zu werfen. "Das war am Anfang auch komisch", nickte ich zustimmend. "Aber mittlerweile habe ich herausgefunden, dass es nichts ändert. Es fühlt sich einfach nicht so an, weißt du? Ich sehe nicht Poppy als meine Schwester, sondern Ruby. Meine Familie hat keine Ahnung davon, also spielt es auch überhaupt keine Rolle." Ich stand nun doch wieder auf. Die Zimmer mussten eben hergerichtet werden, ob es mir gefiel oder nicht. Nachdem ich den Vorrat an Teebeuteln aufgefüllt hatte, lotste ich meine Freundin in Zimmer Nummer 24, wo sie sich mit grüblerischer Miene auf's Bett schmiss. "Es ist alles so verrückt", murmelte sie immer wieder vor sich hin, während ich wieder im Badezimmer zugange war. "Wem sagst du das?", rief ich. Als Antwort bekam ich nur ein Seufzen. Dann klopfte es so plötzlich an der Tür, dass ich mir beim Aufschrecken den Kopf an der aufgeklappten Tür des Spiegelschränkchens stieß. Leise fluchend hinkte ich aus dem Bad. "Ja?", rief Abigail an meiner Stelle mit zuckersüßer Stimme. Der junge Mann, der nun schüchtern seinen Kopf durch den Türspalt schob, war kein geringerer als Keith. Ich hörte auf, mir zischend über den Kopf zu reiben, wo ich schon jetzt den Ansatz einer Beule fühlte, und starrte ihn stattdessen an. Abigail richtete sich langsam auf, ihre Augen waren ungläubig aufgerissen. "Was machst du denn hier?", fragte sie ungehalten. Es klang recht feindselig, dabei hatte sie mir hoch und heilig versprochen, keine Vorbehalte mehr gegen ihn zu haben. Manche Meinungen änderten sich wohl nie. "Äh. Hi." Keith kratzte sich im Nacken, während sich seine Wangen leicht rosa-rot färbten. Was ich irgendwie... süß fand. Er war doch tatsächlich schüchtern! Ich schloss hinter ihm die Tür und streckte meinen Arm nach ihm aus, ließ ihn aber dann doch wieder sinken, bevor ich ihn berührt hatte. "Hallo. Was gibt's?" Kam es nur mir so vor, oder klang meine Stimme tatsächlich entsetzlich? Abigail gab ein Schnauben von sich, das meine Befürchtungen wohl oder übel bestätigte. Was auch immer mit meiner Stimme los war, Keith schien es jedenfalls nicht zu merken. Er kratzte sich noch immer am Nacken. "Könnte ich mal kurz mit dir reden?" Er sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht deuten konnte, aber meine Hormone entschieden sich dazu, aufgeregt zu sein. Ich spürte, wie meine Handflächen heiß und schwitzig wurden. "Klar", sagte ich so lässig wie möglich, während ich die Badezimmertür hinter mir schloss. Keith sagte noch immer kein Wort, sondern schielte zu Abigail. "Oh", machten meine Freundin und ich unisono. Abigail sprang vom Bett auf, um Keith anfunkeln zu können. "Holly und ich haben keine Geheimnisse voreinander." Sie pikste ihm anklagend mit dem blau lakierten Finger in die Brust, doch Keith sah bloß finster auf sie herab. "Aber ich habe Geheimnisse vor dir." Das warf meine Freundin kurz aus der Bahn; sie nahm ihren Finger so schnell zurück, als hätte sie sich verbrannt. Dann stolzierte sie mit erhobener Haube und wehendem Rock zur Tür. Kurz bevor sie endgültig auf dem Flur verschwand, drehte sie sich blitzschnell zu uns um. Ich zuckte zusammen. "Du hast fünf Minuten", zischte sie Keith zwischen zusammengebissenen Zähnen zu. "Dann komme ich wieder. Ich habe nämlich auch wichtiges mit Holly zu besprechen." Mit den Worten wirbelte sie auf dem Absatz umher und knallte die Tür hinter sich zu. Der Windzug, der dabei entstand, fuhr über die seichten Härchen an meinen Armen. "Sie ist nie so", sagte ich entschuldigend zu Keith, ehe ich zum Bett schlenderte, um mich zwischen die ungemachten Laken zu setzen. Keith blieb in den Hosentaschen versenkten Händen vor mir stehen. Eine dunkelbraune Strähne fiel ihm ins Auge, aber das schien ihn nicht zu stören. "Nee, schon klar. Aber, Holly, wie geht's dir?" Mit einem Seufzen ließ ich mich rücklings auf die Matratze fallen. "Das hast du mich schon gefragt." Jetzt machte Keith einen entschlossenen Schritt auf mich zu, setzte sich dann aber nur so vorsichtig auf die Bettkante, als könnte sie jeden Augenblick unter ihm wegbrechen. Ich stützte meinen Kopf auf meine rechte Hand, um ihn besser anschauen zu können. "Wie hast du Zimmer Nummer 24 gefunden?", wollte ich dann mit ehrlichem Interesse wissen. Da, endlich entstand eine Regung in Keiths Gesicht: Er grinste. Zwar schwach, aber erkennbar. "Ich habe deine Mutter gefragt. Seit Abigails Gartenparty habe ich wohl einen kleinen Bonus bei ihr. Sie hat mich hergebracht." Oh. Tja, das konnte ich mir nur allzu gut vorstellen. "Du hast einen sehr großen Bonus bei ihr", sagte ich zu Keith. "Du bist ihr Traum-Schwiegersohn." Ich verdrehte die Augen, während er die Lippen zu einer Antwort kräuselte. Ich hoffte inständig, dass kein 'Bin ich auch dein Traummann?' dabei rauskam, denn nach Flirten war mir heute nicht. Aber das sagte er auch gar nicht. Er sagte: "Nun, dafür ist es vielleicht ein bisschen früh." Ich nickte, während ich meine Hände über das Laken gleiten ließ. Der weiche Stoff schmeichelte meiner Haut. Als Keith nichts sagte, raunte ich ihm zu: "Denk dran: Die Zeit rennt." Und leider viel zu schnell. Fünf Minuten waren nicht gerade viel, vor allem, wenn man sich die Situation ansah. Um alles zu erklären, bräuchte ich wohl ein paar schlappe Stunden. "Ich weiß." Keith räusperte sich und stand auf, um vor mir auf und ab zu laufen. "Ich habe auch eigentlich nichts mit dir zu besprechen. Ich wollte dich einfach nur... Ich will, dass du weißt..." Er jonglierte mit den Worten, drehte sich zu mir um. "Es tut mir leid, Holly. Alles." Er machte eine allumfassende Geste, wobei er das Gesicht verzog. Meine Brust zog sich zusammen. "Mitleid ist das letzte, was ich gebrauchen kann", sagte ich, ehe ich meine Beine über den Bettrand schwang, um ihn zur Tür zu führen. "Ich weiß", murmelte Keith zerknirscht. "Aber wenn es irgendwas gibt, das ich für dich tun kann..." Er ließ den Satz zwischen uns hängen, aber ich machte keinerlei Anstalten, ihn zuende zu führen. Keith beugte sich mit schief gelegtem Kopf so weit herab, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Ich traute mich kaum zu atmen. "Sag mir Bescheid", flüsterte er, ehe er sich wieder aufrichtete und durch die Tür verschwand. Ich blinzelte.

Kaum dass er weg war, kam Abigail auch schon wieder ins Zimmer geschossen und baute sich vor mir auf. "Was wollte der?" Sie rüttelte an meiner Schulter. Ich starrte nur vor mich hin, zu sehr in der verwirrenden Situation von eben gefangen, um auf sie einzugehen. Meine Freundin tätschelte meine Wange. "Holly?" Ich sah auf, aber es war, als blicke ich durch sie durch. "Hat er was gemeines gesagt?" Sie hatte gerade versucht, meinen Blick einzufangen, aber der glitt bereits zum Fenster. "Noch kann ich ihm hinterherrennen und ihn in Stücke zerreißen!" Abigail raufte sich die Haare, wodurch ihre weiße Haube zu Boden segelte. Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder. "Er hat mich fast geküsst", war dann das einzige, was ich stockend hervorbringen konnte. Abigail sah von der Tür zu mir, ehe sie ungläubig auflachte. "Nein!" "Doch." Ich ging staksig zum Bett, um es zuende zu beziehen. Abigail stopfte ein paar Teebeutel in das Kästchen neben dem Wasserkocher, doch wir waren beide nicht ganz bei der Sache. "Willst du drüber reden?", fragte Abigail schließlich scheu, mit plötzlicher Schüchternheit. Ich schüttelte heftig den Kopf. "Nein. Erzähl mir lieber, was du noch zu besprechen hast." Ich packte den Handtuchwagen und bugsierte ihn zum Flur hinaus. Abigail schloss die Tür hinter mir, sie war sofort bei der Sache. "Finley und ich wollen es tun." Ich verschluckte mich so heftig, an meiner eigenen Spucke, dass ich die Augen aufriss und an dem Wagen hinunterrutschte. Keith war sofort vergessen. Meine Freundin klopfte mir unbeholfen über den Rücken, während sie fragend den Kopf schüttelte. "Nicht gut?" "Nein", krächzte ich und schlug mir auf die Brust. Abigail zuckte zwar zusammen, aber der Husten schwillte tatsächlich ab. "Wir sind jetzt schon so lange zisammen." Seufzend setzte sie sich neben mich und schlang die Arme um die Knie. "Zwei Monate, um genau zu sein." Ich rollte mit den Augen, doch meine Freundin ging nicht darauf ein. Auch den Sarkasmus schien sie nicht in meinem Ton gehört zu haben. "Ja, aber -" "Warte besser noch", riet ich ihr. "Bevor du es hinterher bereust." Sie sah mich an, als sei ich ein Alien vom Mars. "Ich würde es nur bereuen, wenn ich gar nicht täte", entgegnete sie verwirrt. Ich seufzte, während ich mich wieder aufrappelte. "Tu, was du nicht lassen kannst, Abigail, aber nu' hilf mir wenigstens mit den Zimmer." Sie sprang sofort auf. "Aye, aye, Capt'n!" Und siehe da, sie half mir sogar, den schweren Handtuchwagen zu schieben. Doch der Gedanke, dass sie und Finley es tatsächlich vorhatten, gefiel mir gar nicht. Ach, wir waren einfach in einem schrecklichen Alter.

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Hallo meine Lieben! ♥ Wie fandet ihr das Kapitel - auch wenn es nur ein Lückenfüller war? ♥

Königin des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt