Kapitel 26

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Ich schob mein Fahrrad über den Kies, der zum Friedhofstor führte und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Zwei lästige Fliegen begleiteten mich auf Schritt und Tritt und vom Friedhof kam mir ein junges Mädchen entgegen, vielleicht zehn Jahre alt. Sie hatte dunkelblonde, lange verfilzte Haare, wulstige Lippen und ein verdrecktes Gesicht. An der Stirn hatte sie eine dicke rosa Narbe, die ihr bis zur Schläfe reichte und die Ohren standen weit vom Kopf ab. Die Kleine trug ein Jeanskleid, das mit Ölflecken zugekleckert war, ehemals weiße Kniestrümpfe, die jetzt schlammfarben waren und schwarze, abgetrene Sandalen, die mindestens zwei Nummern zu klein waren. Das Mädchen sah mir direkt in die Augen und ich wünschte, Abigail wäre doch mitgekommen. Aber heute morgen hatte ihre Mutter sie gebeten, mit ihr in die Stadt zu fahren, weil sie neue Möbel für das Wohnzimmer brauchten und nun würde sie frühestens um sieben Uhr abends zurückkehren. Und um diese Uhrzeit würde Keith vermutlich längst wieder bei den anderen sein und deswegen war ich allein losgezogen. Leider hatte ich nur an unser Treffen gedacht und nicht an die seltsamen Bewohner Port Isaacs. Auf dem Weg hierher war mir schon ein langhaariger, alter Mann mit löchrigem Unterhemd und Khakihosen entgegen gekommen, der zwei tote Hühner am Arm baumeln hatte und unentwegt mit sich selbst gesprochen hatte, ohne mich wirklich wahrznehmen. An der nächsten Hausecke war ich mit einer Frau zusammengestoßen, die einen langen Faltenrock trug und eine vergilbte Zeitung aus den 80ern in den Händen hielt. Sie hatte keinerlei Schuwerk getragen und ihre ganzen Fußsohlen waren blutig und staubig. Dann hatte in einem Hauseingang einen abgemagerten Hund nebst einem Baby gelegen, das auch nicht gerade gesund aussah. Ich wollte es mir gerade ansehen, als ein Mädchen, vielleicht sechzehn, um die Ecke geschossen kam, mich verscheucht hatte und das Kind in ihre aufgeschürften Arme genommen hatte. Ihre dünnen Knie waren verdreht und als sie davongegangen war, fiel mir auf, dass sie irgendeine Gehbehinderung hatte. Das schüttere Haar hatte eine Farbe, die ich nicht identifizieren konnte.

Und jetzt traf ich auf dieses kleine Mädchen, das mich die ganze Zeit anstarrte. Ich fühlte mich unwohl. Sah ich mit meinen Jeans und dem roten Top aus Spitze so anders aus, dass sie mich so ansehen musste? "Hast du Isabel gesehen?", fragte sie mit überraschend zarter Stimme. Trotzdem beschloss ich, sie zu ignorieren - auf die Leute hier ließ man sich besser nicht ein. Die meisten hatten geistige Behinderungen oder waren einfach so irre. "Hast du Isabel gesehen?", fragte die Kleine wieder, lauter diesmal. Unmittelbar vor mir blieb sie stehen und blitzte mich herausfordernd an. Ich seufzte. "Wen?" "Isabel." Das Mädchen zog die Nase hoch, aber der Rotz lief ihr trotzdem in den Mund. "Ich kenne keine Isabel", sagte ich freundlich, während ich versuchte, mein Fahrrad um sie herum zu schieben. Aber da hatte ich die Rechnung ohne sie gemacht: Sie krallte sich an meiner Bluse fest und hielt mich fest. Ich schnappte erschrocken nach Luft. Okay. Tief durchatmen. Dieses Mädchen war offensichtlich ausgehungert und Jahre jünger als ich. Und sie suchte Isabel. Kein Grund zur Panik. "Lass mich los!", sagte ich bestimmt. Die Kleine schlang sich um mein Bein und rief:"Hast du Isabel gesehen?" Mein Gott, hatte sie keine Mutter? Was tat sie überhaupt auf dem Friedhof und wer zum Teufel war Isabel? "Entschuldigung, das weiß ich nicht", sagte ich und schüttelte mein Bein, was sie dazu veranlasste, mich noch fester zu umklammern. "Wo ist Isabel?" Sie weinte fast. Was nun? Das Kind war offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. "Was weiß ich!", rief ich aufbebracht und versuchte nun mit Gewalt, sie von mir loszubekommen. Keine Chance. Sie sah wütend und trotzig zu mir herauf. "Ich hab es eilig", sagte ich jetzt wieder freundlicher und blickte mich um. Eigentlich hatte ich das anders geplant... "Isabel ist schon viel zu lange weg", maunzte die Kleine. "Und sie hat mir versprochen, nach dem Wochenende wieder da zu sein. Jetzt ist schon Dienstag. Isabel hat gelogen", fügte sie enttäuscht hinzu. "Wer ist denn Isabel?", fragte ich, von Unbehagen beschlichen. War ja klar, dass ich mich direkt wieder in so etwas stürzte...! "Meine kleine Schwester. Isabel! Du kennst doch Isabel." Für sie schien es selbstverständlich, dass ich ihre Schwester kannte. "Und woher bitte schön?", fragte ich genervt. Das Mädchen wollte mir anscheind nichts böses und meine Panik hatte sich gelegt. Ich konnte gemein zu ihr sein, sie merkte es sowieso nicht. Und diese Isabel... "Jeder kennt Isabel!", rief das Mädchen empört. "Isabel kann doch nicht laufen. Alle kennen sie." "Aha. Ich nicht." Ich strich mir erneut über die Stirn. Der Sommer in diesem Jahr war gewaltig. Für unsere Touristen war das gut, aber etwas Regen würde auch nicht schaden. Vor allem, wenn das Meer nicht in Reichweite war. "Hast du Isabel gesehen?", tönte die Kleine, ohne auf mich einzugehen und langsam verlor ich die Nerven. "Nein, mein Gott! Ich habe deine blöde Schwester nicht gesehen und ich weiß weder, wo sie hingegangen ist, noch wer sie überhaupt ist! Und jetzt geh mir aus dem Weg!" Wütend knirschte ich mit den Zähnen, während sich die Augen des Kindes mit Tränen füllten. Oh. Ich schluckte schwer. "Sie hat doch gesagt, sie kommt nach dem Wochenende wieder", hauchte sie mit bebender Unterlippe. Bitte nicht! Ihre Augen drohten, überzulaufen und ihre Händchen, die sich in mein Bein krallten, zitterten verdächtig. Seufzend bückte ich mich. "Wo wollte sie denn hin?", fragte ich sanft, während ich mit dem Daumen ihre Tränen wegwischte. Sie hob den Arm, um in die Ferne zu deuten. "Dahin." Ich rollte die Augen. "Was wollte sie denn da?" "Das weißt du doch!", schniefte die Kleine vorwurfsvoll und wischte sich über die Nase. Ihr Arm klebte voll mit Rotz. "Ich hab's halt vergessen", versuchte ich es weiter und rang mir ein Lächeln ab. Ihre Augen wurden riesengroß. "Aber wie konntest du das vergessen? Alle wissen das." Hilfe! "Ich nicht mehr. Mein Gedächtnis ist schlecht. Sag es doch einfach." Ich ignorierte die Schweißperlen auf meiner Stirn und sah sie eindringlich an. Ihre Hand patschte in meine Haare. "Sie hatte überall Aua. Mummy hat gesagt, es geht ihr jetzt besser. Aber Isabel ist nicht wiedergekommen. Hast du Isabel gesehen?" Ich nahm ihre kleine, fettige Hand in meine und bemühte mich um ein freundliches Gesicht. "Frag doch deine Mummy." Die Kleine schlug sich vor die Stirn. Erst dachte ich, das wäre mir zum Vorwurf, aber sie tat es immer wieder und ihre Schläge wurden immer aggressiver und heftiger. Ihre Atmung wurde flach und ihr Gesicht verzerrte sich. Ach du scheiße. Ich unterdrückte ein Schreien und nahm ihre Hände, damit sie sich nicht mehr schlagen konnte. "Hey! Du tust dir doch weh." Sie schien mich gar nicht zu hören, ihre grauen Äuglein flitzten unruhig auf und ab. "Isabel", murmelte sie beinahe abwesend. Aber plötzlich war ihre Stimme wieder ganz klar:"Mummy hat gesagt, ich finde sie hier." "Auf dem Friedhof?" Ich runzelte ungläubig die Stirn. "Hast du Isabel gesehen?" Als ich resigniert zur Antwort ansetzen wollte, sagte das Mädchen plötzlich:"Hinter dir steht jemand." Mit einem gellenden Aufschrei drehte ich mich um meine eigene Achse und sah... Keith. Keuchend sprang ich auf, bereit mich zu verteidigen, aber er sah mich gar nicht an. Er hatte nur Augen für das Kind. "Hau ab!", schrie er sie an. "Hast du Isabel gesehen?" "HAU AB, HAB ICH GESAGT!"  Automatisch stellte ich mich schützend vor das Mädchen. Was fiel ihm ein? Doch Keith schob mich mit seinem Arm grob zur Seite und packte die Kleine am Kragen. "Du bewegst deinen kleinen Arsch jetzt nach Hause, ist das klar?!" Sein Temperament schien sie in keinster Weise zu beeindrucken. "Aber Isabel muss doch...-" "Einen Scheiß muss Isabel!", fiel Keith ihr ins Wort, bevor er ihr einen Schubs verpasste. "Komm mit, Kirby", sagte eine belegte Frauenstimme und ich fuhr erneut auf. Hinter uns stand eine Frau mit braunen, von silbernen Strähnen durchzogenen Haaren, die sie in einem strengen Knoten zusammengefasst hatte. Ihre Augenbrauen waren wuschig und schwarz. Sie trug ein hoch ausgeschnittenes, dunkelbraunes Kleid mit langen Ärmeln, das ihr schwer bis auf die vernarbten Fußspitzen fiel. Kirby hatte wieder begonnen, sich wie verrückt vor den Kopf zu schlagen und zu zucken. "Sind Sie die Mutter?", fragte ich und die Frau zuckte zusammen. Keine Antwort. Keith packte mich grob am Arm und zerrte mich von den beiden weg. "Ich will Isabel!", schrie Kirby, doch die Frau zeigte keine Reaktion. "Hey!", sagte ich laut und da schaute sie endlich zu mir auf. "Ich weiß ja nicht, wo diese Isabel hingegangen sein soll, aber Kirby vermisst sie wirklich sehr. Vielleicht sollten sie - " "Das reicht jetzt, Holly", sagte Keith trocken und zog mich endgültig auf den Friedhof. Trotzdem entging mir nicht, wie Tränen in den Augen von Kirbys Mutter glitzerten.

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