9. Falle

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Lambeth. Eine längst verlassene Anstalt. 1868 wurde sie endgültig geschlossen. Danach habe ich dich, Bruder, niemals wiedergesehen. Es wurde Zeit. Mit schnellen Schritten betrat ich die Anstalt und ging durch die endlos lang wirkenden Flure. Keine Menschenseele war zu sehen oder gar zu hören.

Einzig und allein meine leisen Schritte hallten im gesamten Gebäude. Ich besuchte diese Anstalt einige Male als Kind. Doch noch immer kam mir der Weg so vertraut vor. Schließlich erreichte ich die Tür zum Keller. Er war dort. Ich konnte es spüren. Diese Verbundenheit. Diese Vertrautheit. Jack.

Die Tür öffnete sich unter einem Knarren und Knurren. Mein Erscheinen war nun angekündigt, es gab keinen Weg zurück.Über die alte und vergammelte Holztreppe stolperte ich in den kalten Keller. Bereits auf den ersten Stufen hörte ich Jacks dreckige Stimme. Die Treppe führte in eine große Halle, welche kalt und verlassen schien.

„Jacob. Was willst du eigentlich von meiner Schwester? Du bist niemals gut genug für sie. Und ich würde doch niemals zulassen, dass meiner geliebten Schwester wehgetan wird. Du verstehst das doch sicherlich. Eine Frau wie sie, wirst du niemals besitzen." Dann kamen sie in mein Blickfeld. Jacob lag am Boden. Er war schrecklich zugerichtet worden. Er bewegte sich kaum und schwieg. Trotzdem erzählte mein Bruder munter weiter. „Ich mag dich, Jacob. Irgendwie. Immerhin habe ich all diese Kraft von dir. Es ist nur traurig, dass es so enden muss. Du warst immer ein Teil meiner Familie. Aber so läuft es leider nicht."

Jack schloss die Tür hinter sich. Dann verließ er ihn und ging einen anderen Weg entlang. Über mir konnte man leise Schritte hören. Auf leisen Sohlen ging ich durch den Raum zum Eingesperrten. Ich versuchte die schwere Tür zu öffnen und es klappte auch. Aber warum hatte er nicht abgeschlossen? War Jacob vielleicht freiwillig hier? Aber warum wurde er dann so misshandelt? Wo bleibt der Sinn?!

Ich ließ mich neben ihm auf dem Boden nieder. Sein Gesicht war von Schmerz gezeichnet. Er würdigte mich keines Blickes. Als ich meine Hand nach seinem Gesicht ausstreckte, zuckte er heftig zusammen und kroch von mir weg.

Schließlich sah er zu mir auf. Ein kleines Lächeln zierte schließlich seine aufgeplatzten Lippen. Einen Moment lang überlegte ich, doch dann handelte ich einfach. Ich fiel ihm um den Hals und zog ihn in eine tiefe und innige Umarmung. Ich war einfach froh und überglücklich, dass er noch am Leben war. Ich hatte genug Zeit um über einige Dinge klar zu werden. Diesen Mann wollte ich um keinen Preis verlieren.

„Lauf...", ertönte es plötzlich ganz leise aus seinem Mund.

Ich schüttelte nur den Kopf und sagte: „Nicht ohne dich!"

Dann war es bereits zu spät. Hinter mir fiel die Tür zu. Und dieses Mal wurde sie auch verschlossen.

„JACK!", brüllte ich hinaus, „Lass uns gehen. Lass uns endlich in Frieden."

Jemand begann hämisch zu lachen. Ein Gesicht zeigte sich durch die Luke an der Tür. Eine Maske war bloß zu sehen – trotzdem wusste jeder sofort, wer es war. The Ripper.

„Ach, Schwesterherz. Ich tu dies nur zu deiner eigenen Sicherheit. Also hab keine Angst. Ich lasse dich sofort gehen, sobald alles vollendet ist." Wütend sprang ich auf und schlug einige Male gegen die Tür. Ich schaute dem Monster direkt in die Augen – sie waren von Hass umschlungen. „Spiel nicht die Heldin, Liebes. Es ist nicht dein Spiel!"

Dann drehte er sich um und wollte verschwinden.

„Jack du bist Krank! Du weißt genau, wie dieser Tag enden wird..."

Er applaudierte mir zu. Dann verneigte er sich und dreht sich weg.

„Ich verneige mich vor deinem Mut. Wo kommt dieser nur plötzlich her? Spielt gerade auch keine Rolle ... Ich erwarte noch einen Spezialgast und muss dafür noch allerhand Dinge planen."

Erneut schlug ich gegen die Tür und ließ dabei meiner Wut freien Lauf. Ich drehte mich zu Jacob. Mittlerweile hatte er sich etwas gefangen. Ich rutschte an der Tür zu Boden und zog die Beine an mich. Mein Kopf fiel in den Nacken und ich schloss für einen Moment lang die Augen.

„Sie ist hier, oder?" Ich schaute nicht zu ihm. Ich verharrte in meiner Position.

„Wen meinst du? Deine Schwester? Evie."

„Ja."

„Sergeant Abberline hat sie gerufen. Er meinte, dass du mit dem Ripper überfordert wärst." Schließlich richtete ich meinen Blick auf ihn. Er nickte bloß verständlich. „Evie hatte mir vom ‚Hau-drauf-Jack' erzählt. Jack war immer ein Draufgänger. Er wollte immer zu viel. Deswegen landete er auch hier."

„Was ist damals passiert? Er soll angeblich seine gesamte Familie getötet haben, warum aber nicht dich?"„Man tötet niemals sein Schwesterherz. Warum wohl? Er liebte mich. Er war immer mein Beschützer. Und das ist er auch heute noch immer..."

„Du warst dabei, oder?" Ich zuckte bloß mit den Schultern. Er kannte die Antwort doch bereits, warum sollte man sie noch aussprechen? „Fuck..."

„Er hat jeden getötet, den ich mochte und mich verletzen könnte. Das letzte Mal ist er bei meinem damaligen Schwarm durchgedreht. Er hatte nur mit mir gespielt. Meine Gefühle missbraucht, damit er als der Sieger hervorgeht. Ich war nur ein Trostpreis. Eines Abends kam Jack an meine Wohnungstür und sagte mir, ich solle mich keine Sorgen mehr um ihn machen. Eric sei von mir gegangen und würde mich nicht mehr verletzen. Dann verschwand er wieder und ich hörte am nächsten Tag von seinem tragischen Tod."

„Eric? So war also sein Name."

Ich nickte. Er verstand mein Schweigen. Ich wollte nicht weiterreden und das verstand er.

„Alia?", seine Stimme war fast so zerbrechlich wie er aussah, „Kommst du bitte zu mir?" Ich leistete seiner Bitte sofort folge. Ich bekam Angst, dass etwas nicht mit ihm stimmen konnte oder er einen völlig idiotischen Plan hatte. Ich versuchte trotzdem meine Nerven beisammen zu halten. Und schwieg lieber. Er holte etwas hinter seinem Rücken hervor und streckte es mir versteckt zu. „Nimm diese Klinge. Wenn jemand unerwünschtes kommt, zögere nicht und töte ihn!"

Im selben Augenblick nahm ich sie an mich und versteckte sie in meinem Stiefel. Er öffnete seinen Mund, als wollte er etwas sagen, doch ich nahm ihm das Wort.

„Ich weiß, wie man damit umgeht. Ich habe es damals von Jack gelernt. Frag einfach nicht."

„Er wird sicherlich bald zurückkommen und uns trennen. Was auch immer passiert – sobald du die Möglichkeit zur Flucht hast...zögere sie nicht zu nutzen. Versprichst du es mir?"

„Werde ich!" Ich wusste, dass es eine Lüge ist, doch ich wollte ihn nicht enttäuschen.Einen Moment lang herrschte Stille über uns. Doch dann übernahm ich die Initiative und zog ihn erneut in eine feste Umarmung.

Jack platze wie auf Kommando herein. Vielleicht hatte er vor der Tür auf solche eine Situation gewartet. Mit Schwung riss er die Tür auf. Er kam geradewegs auf uns zu. Er zog mich zur Seite und drohte mir mit tiefer Stimme: „Hast aus dem letzten Mal wohl noch nicht gelernt, Schwester?!"

Dann ging er zu Jacob und packte ihn am Kragen. Alles passierte innerhalb von Sekundenbruchteilen. Jacob versuchte sich noch zu wehren, doch seine Kraft war mittlerweile auf dem Tiefpunkt angekommen. Jack schleuderte ihn durch die Tür hinaus.

Plötzlich ging im Nebenraum eine Bombe hoch und Rauch durchströmte die große Halle, in der auch Jack schließlich war. Das Einzige, woran ich dachte war Jacob. Ich krabbelte auf allen Vieren zu ihm durch den Rauch und zog ihn zurück in die Zelle. Mit einem Tritt schloss ich die Tür hinter uns zu. Ich streichelte sanft Jacobs Kopf, während ich in der anderen Hand die Klinge fest umschlossen hielt.

Shadows SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt