Prolog

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Prolog

 Die Dunkelheit lag undurchdringlich wie ein Samttuch über Vanarée. Alles war ruhig. Die Straßen des äußeren Stadtrings, die tagsüber voller Leben waren, lagen verlassen im Mondlicht und nicht einmal eine streunende Katze ließ sich blicken. Noch war nichts von dem zu bemerken, was gleich geschehen sollte.

Dann passierte es. Das Licht erstrahlte ohne Vorwarnung. Plötzlich war der Nachthimmel gleißend hell, so hell, dass weder Mond noch Sterne zu erkennen waren. Hunde jaulten auf, Katzen fauchten. Schreie drangen durch die taghelle Nacht, Türen schlugen auf und die Bürger Vanarées rannten auf die Straßen, rafften mit aufgerissenen Augen ihre Morgenmäntel enger und starrten mit angsterfüllten Gesichtern nach oben. Schmerzensschreie erklangen, als das Licht so hell wurde, dass es die Augen nicht länger ertragen konnten. Im Bezirk der Adligen begannen die weißen Wölfe zu heulen und die ganze Stadt war in Panik, während das unbekannte, strahlende Licht die Häuser und Mauern in helles Silber tauchten. In ganz Vanarée herrschte Angst und Verwirrung.

In dieser Nacht wurden vier Kinder geboren.

Abseits von den äußeren Stadtmauern war das Licht ebenfalls bemerkt worden. Meister Liron, der Älteste der Magier, wurde von seinem Lehrling geweckt, als das Licht bereits wieder zu verblassen begann. Dennoch wusste er sofort, was geschehen war. Die Prophezeihung des Lichts hatte sich erfüllt. Meister Liron handelte sofort. Er ließ Magier ausschwärmen, die Vanarée durchsuchten, und rief zu einer Ratsversammlung auf. Als der Morgen hereinbrach, hatten sich die Höchsten Magier im Versammlungssaal des Campus eingefunden und die ausgeschickten Männer waren zurückgekehrt. Mit sich brachten sie vier Neugeborene.

Als die Türen des Saals aufschwangen, verstummten alle Magier, die bisher aufgeregt durcheinander geredet hatten, sofort. Alle Blicke wandten sich den vier Männern zu, die auf Meister Liron zutraten. Jeder von ihnen hielt ein Leinenbündel in den Armen.

„Wir haben sie gefunden, Liron“, sagte der Magier, der als Erster durch die Tür getreten war. Er hatte langes, dunkles Haar und trug die violette Robe der Meister. „Alle vier. Sie sind alle in dieser Nacht geboren worden.“

Meister Liron trat vor. Sein graues Haar fiel ebenfalls bis auf seine Schultern herab. Obwohl seine Haut von feinen Falten durchzogen und seine knorrigen Finger von Flecken übersäht waren, war sein Blick aus grünen Augen ebenso fest wie seine Stimme. „Sind Sie sicher, Emron?“

„Vollkommen. Diese vier Kinder sind die richtigen.“

Getuschel brach aus. Die Magier und Magierinnen im Saal trugen allesamt die Roben der Meister. Sie alle wussten, was es mit dem Licht auf sich hatte. Sie alle kannten die Gefahr, die von diesen Kindern ausging.

Meister Liron hob eine Hand. „Ruhe.“

Stille breitete sich aus.

„Sie wissen, was es mit diesen Kindern auf sich hat. Die Priester des Lichtordens sind sich einig, was die Deutung der Prophezeihung betrifft. Im Zeichen des Lichts werden vier Kinder in Vanarée geboren werden, mit magischen Kräften, die größer sind als die aller Magier des Campus-“

„Das wissen wir, Liron“, unterbrach ihn eine Frau mit langen, braunen Haaren und stechenden Augen. „Uns allen ist klar, dass diese Kinder mächtig sind. Die Frage ist, was wir mit ihnen tun sollen.“

„Das wäre mein nächster Punkt gewesen, Livia“, sagte Meister Liron würdevoll. „Nun, bedauerlicherweise ist es so, dass der König von der Prophezeihung erfahren hat.“

Ein Raunen ging durch den Saal. Meisterin Livia verengte die Augen und schwieg.

„Wie Sie natürlich ebenfalls wissen, sind wir Magier ihm schon seit langem ein Dorn im Auge. Nun, da er von der Geburt dieser mächtigen Kinder  erfahren hat, wird er nicht ruhen, ehe er sie gefunden und unschädlich gemacht hat."

„Er würde sie niemals töten“, wandte Livia ein. „Wenn er das täte, würde er die ganze Magierschaft gegen sich aufhetzten und das weiß er. König Gideon ist nicht dumm genug, um das zu riskieren.“

„Er würde sie nicht töten“, bestätigte Liron, „Aber er würde dafür sorgen, dass wir sie nicht ausbilden können.“

„Dummkopf“, knurrte Emron. „Magier, die ihre Kräfte nicht unter Kontrolle haben, sind weitaus gefährlicher als die, die wir ausbilden.“

„Also müssen wir dafür sorgen, dass er die Kinder nicht findet, und sie ausbilden, sobald Gras über die Sache gewachsen ist“, stellte einer der anderen Magier fest, die die Neugeborenen gebracht hatten. Er hatte blonde Locken und ein freundliches Gesicht. Das Kind in seinem Arm wimmerte leise.

„Richtig“, bestätigte Meister Liron. „Genau das war mein Gedanke, Ilias.“

„Und wie stellen wir das an?“, fragte Livia. „Wir können sie nicht bei uns behalten. Der König würde sie hier zuerst suchen, das ist sicher.“

„Dann bringen wir sie in Vanarée unter“, schlug eine zweite Magierin vor. Sie war jünger als Livia und warf ihr einen leicht eingeschüchterten Blick zu. „Wo kommen die Kinder her?“

„Aus dem äußeren Stadtring“, antwortete Emron. „Bis auf das hier. Dieses wurde im Bezirk der Adligen geboren, aber die Hebamme war eine Heilerin und geistesgegenwärtig genug, um das Kind für tot zu erklären und zu uns zu bringen.“

„Wir können sie nicht zurück zu ihren Eltern bringen“, sagte Meister Liron ernst. „Das wäre zu riskant. Wir müssen dafür sorgen, dass sie an Orten untergebracht werden, an denen sie sicher sind.“

„Die Gelehrten“, sagte die junge Magierin sofort. „Die Bibliothekare würden sicher ein Kind aufnehmen. Sie stehen eher auf unserer Seite als auf der des Königs.“

„Sehr guter Vorschlag, Mila“, stimmte Meister Liron zu. „Außerdem hatte ich an den Lichtorden gedacht. Die Priester sind sicher nur zu gern bereit, ein Kind des Lichts aufzunehmen.“

„Wir brauchen vier verschiedene Plätze“, sagte Meisterin Livia. „Dann ist es für Gideon schwieriger, sie zu finden. Wie wäre es mit den Gauklern?“

Meister Emron schnaubte laut auf. „Das ist nicht Ihr Ernst. Sie können doch diesen Halunken kein Kind des Lichts anvertrauen!“

„Natürlich kann ich das. Der König würde niemals im Bezirk vor den Stadtmauern nach einem der Kinder suchen. Wo könnte es sicherer sein?“, fragte Livia scharf.

„Ich halte die Idee für gut“, sagte Liron ruhig. „Es gibt einen Seiltänzer, dem ich blind vertrauen würde. Er wäre sicher bereit, ein Kind aufzunehmen.“

Emron warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Ich fordere eine Abstimmung.“

„Sofort, Emron, sofort“, erwiderte Liron. „Wir suchen erst nach einem Platz für das letzte Kind und dann sehen wir, wie die Mehrheit entscheidet.“

„Wie wäre es mit der Familie von Loyen?“, fragte Meister Ilias. „Sie sind einige der wenigen Adligen, die nicht mit dem König sympathisieren. Außerdem wagen es die Soldaten Gideons nicht, bei einer so einflussreichen Familie genauer nachzufragen.“

Meister Liron nickte. „Gut. Ich bin sicher, auch sie würden sich bereiterklären.“ Er räusperte sich. „Nun zu der Abstimmung. Wer ist dafür, dass der Plan wie besprochen umgesetzt wird?“

Siebzehn der zwanzig Höchsten Magier hoben die Hand. Emron verzog das Gesicht und warf Meister Ilias neben sich einen grimmigen Blick zu, der seine Hand jedoch nicht zurückzog.

Meister Liron ließ seinen Blick über die Versammelten gleiten und nickte dann. „Hervorragend. Der Plan wird durchgeführt wie besprochen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Emron, Ilias, Hassin und Ferodin – ich verlasse mich auf Sie. Sorgen Sie dafür, dass die Kinder noch vor Sonnenaufgang in ihr neues Zuhause gebracht werden.“

„Natürlich, Meister Liron“, antwortete Meister Ilias für alle. Die vier Männer schlossen die Augen und verpufften mitsamt den Kindern zu vier kleinen Nebelwolken. Meister Liron sah ihnen nachdenklich nach. Auf seiner Stirn standen tiefe Sorgenfalten.

Die Kinder des Lichts: LICHT UND SCHATTENWo Geschichten leben. Entdecke jetzt