1. Durch den Tunnel
fünfzehn Jahre später
SAMINA
In der Bibliothek von Vanarée fühlte Samina sich geborgener als an jedem anderen Ort. Das war schon immer so gewesen. Die meterhohen, engen Regale voller Schriftrollen und Bücher erstreckten sich über so viel Fläche, dass sich Besucher häufig verloren vorkamen, und den meisten war auch die andächtige, geheimnisvolle Stille unangenehm, doch Samina liebte die Hallen der Bibliothek. Sie liebte das Licht, das durch die hohen Fenster in den riesigen Saal fiel und in dem feine Staubkörner tanzten, sie liebte den Geruch von altem Leder und vergessenem Wissen und das Geräusch gedämpfter Schritte auf dem mitternachtsblauen Samtteppich, der über und über mit silbernen Sternen bestickt war und dessen alte Pracht man heute durch die Spuren der vergangen Zeit nur noch erahnen konnte. In der Bibliothek hatte sie den Großteil ihres bisherigen Lebens verbracht und so konnte es, wenn es nach ihr ging, auch bleiben.
Samina hob den Kopf und zuckte zusammen, als ihr Blick auf die überdimensionale Uhr am anderen Ende der Bibliothek fiel. Wie jeden Morgen hatte sie sich heute, nachdem sie alle Bücher, für die sie zuständig war, sorgfältig abgestaubt und verirrte Exemplare an ihren richtigen Platz gestellt hatte, auf eines der hohen Regalbretter in gut vier Metern Höhe gesetzt und zu lesen begonnen. Das war nicht verboten, im Gegenteil – die Hilfsbibliothekare, deren Aufgabe es war, an den Leitersprossen der Regale nach oben zu klettern und die Bücher nach unten zu bringen, die Besucher verlangten, wurden von den älteren Bibliothekaren immer wieder dazu ermuntert, sich auf die breiten, stabilen Regalbretter zu setzen und ihr Wissen zu erweitern, sobald sie die Zeit dazu fanden.
Das Problem war nur, dass Samina sich so sehr in die Bücher vertiefte, dass es ihr schon häufiger passiert war, dass sie die Umwelt vollkommen vergaß und den ganzen Tag las, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Das hatte natürlich Tadel von Don zur Folge. Don war ein älterer Hilfsbibliothekar und ihr bester Freund. Er hatte sie aufgezogen, seit sie als Baby vor die Tür der Bibliothek gelegt worden war, und ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie als eine der eifrigsten und besten Hilfsbibliothekarinnen überhaupt bekannt war. Don war normalerweise ausgesprochen gutmütig und hatte viel Nachsicht mit Samina, doch wenn sie über das Lesen vergaß, ihren Pflichten nachzugehen, verstand er keinen Spaß.
Hastig schob Samina ihr Lesezeichen zwischen die Seiten und schlug das Buch zu, in dem sie gelesen hatte. Es handelte von Magie. Schon immer hatte sie dieses Thema fasziniert. Während Samina die Sprossen nach unten kletterte – durch jahrelange Übung flink wie eine Katze – überlegte sie, was sie an diesem Gebiet eigentlich so spannend fand. Sie konnte es nicht genau sagen, aber trotzdem übte alles, was mit Magie zu tun hatte, eine ungeheure Anziehungskraft auf Samina aus. Seit sie denken konnte, wünschte sie sich nichts mehr, als ein Spezialgebiet zugeteilt zu bekommen, das mit Magie zu tun hatte.
Bei diesem Gedanken begann ihr Herz sofort schneller zu pochen. Heute war es so weit. Das war auch der Grund, warum sie auf keinen Fall die Zeit vergessen durfte. Heute wurde den jungen Hilfsbibliothekaren der Gelehrten ein Spezialgebiet zugeteilt. Das war etwas, worauf Samina seit Jahren wartete. Wenn sie endlich ein Spezialgebiet hatte, war sie offiziell berechtigt, Besucher zu beraten und Fragen zum Inhalt ihres Gebiets zu beantworten. Außerdem durfte sie dann Bücher nicht nur lesen, sondern auch ausleihen – etwas, wovon Samina ebenfalls seit langem träumte. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie wunderbar es sein würde, wenn sie abends im Bett noch in den Büchern lesen durfte, die sie tagsüber angefangen hatte ...
Als Samina den Lesesaal Drei erreichte, standen die anderen drei Lehrlinge schon vor der Tür. Ruben, Mick und Ari nickten ihr zu, als Samina sich neben sie stellte. Mit den drei Jungen hatte sie wenig zu tun. Tatsächlich zog Samina die Gesellschaft der Bücher der menschlichen Gesellschaft vor, wenn es nicht gerade um Don ging. Sie hatte noch nie viele Freunde gehabt, eigentlich nur einen. Bis zum letzten Jahr hatte sie sich auch gut mit Nia verstanden, einem Mädchen in ihrem Alter, aber als Nia das Spezialgebiet Amphibien zugeteilt worden war, hatte sie den Kontakt verloren. Die Abteilung Amphibien lag so weit von Saminas Lieblingsbüchern und den Regalen, für die sie bisher zuständig gewesen war, entfernt, dass sie Nia kaum noch sah.
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Die Kinder des Lichts: LICHT UND SCHATTEN
Fantasi"Und wenn die Nacht am tiefsten scheint, werden vier Kinder kommen, sie zu erhellen. Sie werden kommen im Zeichen des Ewigen Lichts ..." Aus den Hallen der Tausend Stimmen; Heiliges Wort, gehört und geschrieben von Bruder Ulaf um 4093 vor der Ära de...