Saminas Aufgabe

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Nochmal das siebte ... und dann gleich das achte hinterher. Viel Spaß :)

* * *

7. Saminas Aufgabe

SAMINA

Zu Saminas Überraschung führte Helena sie die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Samina folgte ihr mit leiser Beklemmung. Sie fühlte sich nicht wohl in einem fremden Haus, das war sie nicht gewohnt. Fünfzehn Jahre lang hatte sie in der Bibliothek von Vanarée gelebt und die Gebäude der Gelehrten kein einziges Mal verlassen. Fünfzehn Jahre lang hatte sie sich nie weiter als ein paar Meter von der Bibliothek entfernt, und das nur, wenn sie im Sommer im Garten spazieren gegangen war. Seit sie durch den Tunnel geflüchtet war, fühlte sie sich nicht mehr sicher, weder unter freiem Himmel noch in fremden Gebäuden. Flynn schien damit kein Problem zu haben. Flynn schien sowieso mit nichts ein Problem zu haben. Samina hatte noch nie jemanden getroffen, der so mutig war wie er. Er schien vor nichts Angst zu haben, wohingegen Samina vor allem Angst hatte.

„Habt ihr euch jetzt eigentlich Decknamen überlegt?“, riss sie Helenas Stimme aus ihren Gedanken. Samina zuckte zusammen und hätte sich sofort dafür ohrfeigen können. Wieso nur war sie so schreckhaft? Sie benahm sich wie ein verängstigtes Tier.

„Ja“, antwortete sie, während ihr Blick sofort durch die Gegend huschte, um mögliche Gefahrenquellen zu finden. Sie standen vor einer Tür, die wohl zu Helenas Privaträumen führte. Der Flur war mit der gleichen Art Teppich bedeckt wie im ersten Stock, wo die Gäste wohnten, aber hier oben fehlten die Aquarelle von Vanarée an den Wänden und die metallenen Zimmernummern an den Türen. Stattdessen hingen ein paar Tuschezeichnungen von fremdartigen Pflanzen und Insekten in schlichten Rahmen und frische Blumen standen in dem Fenster, das in den Hinterhof des Gebäudes führte. Obwohl das gesamte Gasthaus im Vergleich zu den lichtdurchfluteten, hohen Räumen der Bibliothek eher eng und dunkel wirkte, vermittelte es doch ein gewisses Gefühl von Geborgenheit.

„Samina?“

Samina blinzelte. Helena stand mit erhobenen Brauen vor der Tür.

„Entschuldigung“, sagte sie hastig, obwohl sie nicht wusste, wofür sie sich eigentlich entschuldigte.

Helena musterte sie mit einer Mischung aus Spott und Belustigung. „Du bist eine Träumerin, nicht wahr? Du fühlst dich in deiner Fantasie wohler als in der wirklichen Welt.“

Samina wich ihrem Blick aus und schwieg.

„Ich habe dich nach den Decknamen gefragt“, wiederholte Helena beinahe sanft. „Es ist auffällig, wenn ich als eure angebliche Tante eure Namen nicht kenne.“

Samina lächelte zögernd. „Stimmt. Also, Flynn hat sich Florin genannt und ich bin jetzt Sanja.“

„Florin und Sanja“, wiederholte Helena. „In Ordnung.“ Sie lächelte und drehte den Türknauf, den sie schon die ganze Zeit in der Hand hielt. „Dann werde ich dir jetzt mal jemanden vorstellen, Sanja. Ich habe nämlich eine Aufgabe für dich, die dir mehr liegen sollte als die hektische Arbeit in der Küche.“

Samina betrat den Raum, in den Helena sie führte. Sie hatte ein Wohnzimmer im Stil des Gasthauses erwartet und blieb wie angewurzelt stehen, sobald sie die Türschwelle überquert hatte. Der Raum, in dem sie stand, war alles andere als ein gewöhnliches Wohnzimmer. Durch zwei Fenster fiel die Morgensonne auf die Regale, die drei Viertel der Wandfläche bedeckten. Hinter spiegelndem Glas reihten sich zahllose Bücher aneinander, dicke, schwere Wälzer, gebunden in dunkles Leder und beschriftet mit abblätternden, silbernen Lettern. Dünnere, selbst gebundene Hefte aus losen Notizblättern, säuberlich in verblichener Tinte beschrieben, verziert mit Tuschezeichnungen und ergänzt durch getrocknete Blätter und Gräser stapelten sich davor auf den Regalbrettern. In Vitrinen hingen weitere Zeichnungen, manche zart coloriert, andere rasch hingekritzelt mit Kohle oder Bleistift. Einzelne Karten von Regionen, die Samina nur aus Büchern kannte, schmückten die letzten freien Plätze an der Wand.

Die Kinder des Lichts: LICHT UND SCHATTENWo Geschichten leben. Entdecke jetzt