Kapitel 16

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Der Raum dahinter lag in völliger Dunkelheit. Auch hier gab es keine Fenster. Meine Schultern sackten vor Enttäuschung nach vorne. Eine Weile blieb ich so auf der Türschwelle stehen, den Blick gesenkt. Ich wollte gerade wieder umdrehen und in meinem Zimmer auf das Ungewisse warten, als ein leises Geräusch an meine Ohren drang. Verwundert darüber, dass es mir nicht vorher aufgefallen war,machte ich einen kleinen Schritt in den dunklen Raum hinein. Wieder das Geräusch. Es klang beinahe wie ein Atmen, nur war es unregelmäßig und wirkte irgendwie... gequält. Trotzdem musste hier jemand sein. Meine Augen konnten in der Dunkelheit jedoch immer noch nichts erkennen. „Wer ist da?" flüsterte ich zaghaft der Ecke zu, aus der die Geräusche zu kommen schienen. Das Atmen stockte und wurde dann schneller. Eine raschelnde Bewegung, ein leises Stöhnen,fast so als würde sich jemand bewegen. „Wer... was?" Eine männliche Stimme, die gebrochen und erschöpft klang, drang aus der Dunkelheit. Entschlossen stand ich auf und trat wieder auf den Gang hinaus. Ich nahm eine der Fackeln aus ihrer Halterung und kehrte in den dunklen Raum zurück. Langsam hielt ich die Fackel vor mich. Das flackernde Licht des Feuers warf dunkle Schatten auf das Gesicht eines jungen Mannes. Schwarze Haare hingen ihm in das eingefallene Gesicht. Mit aufgerissenen Augen, in denen die Überraschung geschrieben stand starrte der Mutantenarzt mich an.

Er sah fürchterlich aus. Seine Lippen waren aufgeplatzt und er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Er war unrasiert und an seiner Schläfe klebte Blut. Mit sichtlicher Mühe setzte er sich auf. Ich half ihm nicht. Ich sah ihm ungläubig zu.Als er endlich halbwegs aufrecht saß schloss er die Augen und atmete einige Male tief durch. „Das ist ja mal eine nette Überraschung."sagte er mit geschlossenen Augen und einem gepressten, ironischen Lachen. Sein rechter Arm hing in einer Art Schlinge. Im Gegensatz zu meiner bestand sie aus einem schmutzigen Hemd. „Was machen sie hier?" fragte ich. Er war der letzte Mensch, mit dem ich an einem Ort wie diesem gerechnet hatte. „Willst du dich nicht setzen?"fragte er und machte eine Bewegung mit der linken Hand, die ihn das Gesicht verziehen ließ. Mühselig ließ ich mich an der Wand gegenüber nieder. Sein Raum war deutlich kleiner als meiner. Er hatte die Augen wieder geöffnet und beobachtete meine Anstrengungen.„Du siehst ja fast so scheiße aus wie ich." bemerkte er.Stirnrunzelnd sah ich an ihm herunter. Er sah eindeutig schlimmer aus als ich. Seine Kleidung war zerrissen und schmutzig. An mehreren Stellen klebte Blut. Sein Lächeln strahlte eine Verzweiflung aus,die mich schlucken ließ. Sofort wurde ich wieder an meinen Durst erinnert und hustete. „Was machen sie hier?" wiederholte ich meine Frage. Ich traute ihm nicht. Obwohl er eindeutig nicht in der Lage war mir etwas zu tun. In letzter Zeit wagte ich es nicht mehr,irgendjemandem zu vertrauen. Er seufzte. „Ich fürchte, es ist deine Schuld."

Anstatt einer Antwort zog ich eine Augenbraue hoch. Erdrehte den Kopf zur Seite und lachte wieder. „Ich habe meinen Kollegen angerufen, den der dich zu mir geschickt hat. Ich erzählte ihm was ich wusste und wollte mit ihm besprechen, wie wir es deiner Familie sagen und dir helfen können. Er schlug ein gemeinsames Abendessen vor, direkt nach Feierabend wollte er zu mir in die Praxis kommen und Cheeseburger mitbringen." Wieder lachte er. Das Lachen wurde zu einem Husten. Er spuckte aus. Ich begann zu verstehen.Zumindest teilweise. „Und sie haben sich mit ihm getroffen." Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Er nickte. „Wir kannten uns schon länger, und ich betrachtete ihn eigentlich als meinen Freund. Statt mit Cheeseburgern stand er mit einer Waffe vor meiner Tür und schlug mich K.O. Und -" Freudlos lachte ich auf und erstoppte. „Ich verstehe wirklich nicht was gerade daran komisch ist." Ich grinste ihn an. „So wurde ich auch eingeladen. Nur hatte ich gerade die Leiche meines Freundes in der Badewanne entdeckt." Er riss die Augen auf und die Kinnlade fiel ihm herunter. Er stammelte einige Beileidsbekundungen und wirkte ehrlich betroffen. So gut es ging winkte ich ab. „So langsam gewöhne ich mich an den Gedanken. Er ist kaum noch mehr als ein großes schwarzes Loch in meinem Herzen." Während des letzten Satzes brach meine Stimme. Erschreckt stellte ich fest, dass es stimmte. Der Gedanke an Sven löste keine hysterischen Anfälle oder Weinkrämpfe mehr aus.Er ließ mich bloß die Leere in meinem Inneren spüren....

„Heinrich hatte seine Informationen, warum sehen sie jetzt so aus?" Ich versuchte es zu überspielen, was mir jedoch nicht gelang. In den Augen des Arztes lag Mitleid. Ich sah weg. Er seufzte wieder. „Nenn mich doch Sam. Ich musste mir meine Schulter wieder einrenken und habe einen gigantischen Brummschädel. Einige Rippen sind gebrochen und mein ganzer Körper ist ein wunderschönes Farbenspiel aus blau, lila und grün. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt normal mit dir sprechen kann. Also lass die Formalitäten. Ich bin sowieso am Ende." Als er geendet hatte runzelte ich die Stirn.Seine Verletzungen hörten sich schmerzhaft an, aber nicht lebensgefährlich. Dann dämmerte es mir langsam. Trotzdem ließ ich Sam erzählen. „Sie wollten zunächst alles über dich wissen. Ich habe ihnen nichts erzählt, bis sie mir gezeigt haben, dass sie dich in deiner Gewalt haben. Versuch bitte dich nicht aufzuregen!" Den letzten Satz unterstrich er indem er die Hände hob, was er Sekunden später bereute.

Er hatte meine gerunzelte Stirn falsch interpretiert. „Das werde ich nicht. Die haben mich sowieso in der Hand, die haben Dinge mit mir getan..." Meine Stimme brach als ich an das Massaker dachte. Ich sah Sam in die Augen. Sie waren voller Mitgefühl. „Was haben sie ihnen gesagt?" fragte ich. Er zuckte kurz mit dem Kopf zur Seite. „Einfach alles, was ich über dich schmecken konnte." Fragend sah ich ihn an. Das konnte doch nicht alles sein. Er verstand mein Schweigen richtig. „Aber du warst nicht der einzige Grund, weswegen sie mich geholt haben. Sie haben es schon länger vorgehabt. Und jetzt, wo ich über deine Fähigkeiten Bescheid wusste, war für sie anscheinend der richtige Zeitpunkt gekommen um auch.." Er brach ab. In seinen Augen standen Tränen. Er schwieg einen Moment, dann fuhr er langsam fort.

„Sie wollten die anderen Mutanten. Meine anderen Patienten.... Meine...Schützlinge. Ich habe ihnen natürlich nichts verraten. Dafür werde ich bald bezahlen." Ich hatte also recht gehabt. Ich schluckte und wünschte mir, Sam helfen zu können. „Was haben sie mit dir vor?"„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich behalten sie mich einfach hier.. Aber sie können sich schon denken, dass ich ihnen nie etwas sagen würde... Vielleicht schicken sie noch einmal die Hexe her,aber da ich ihr widerstehe..." Er redete nicht weiter. Tränen brannten in meinen Augen. Ich wusste, dass ich nichts tun konnte. Sam schien sich bereits einigermaßen mit seinem Schicksal abgefunden zuhaben. Dennoch graute mir vor der Vorstellung, das nächste vertraute Gesicht zu verlieren. Langsam robbte ich vorwärts, sodass ich seine Hand berühren konnte. „Es tut mir leid" flüsterte ich. „Du kannst nichts dafür. Ich habe schon lange damit gerechnet, dass irgendjemand versucht über mich an andere Mutanten zu kommen. Die Menschen sind einfach auf eine grausige Art zu neugierig...." Er sah mir jetzt direkt ihn die Augen. „Ich bereue nur dich nicht gewarnt zu haben..." Wieder runzelte ich die Stirn. „Wovor?"fragte ich.

Er seufzte. „Ich habe nochmal probiert etwas bestimmtes über dich herauszufinden. Es hat auch geklappt, aber ich habe mir geschworen niemals jemandem etwas über dessen Zukunft zu erzählen.Aber da du anscheinend auch ziemlich am Arsch bist..." Mit großen Augen sah ich ihn an und bereute es ein wenig, seine Kraft als lächerlich betrachtet zu haben. Gespannt lauschte ich auf seine Vorhersage. „Es ist ein wenig wie in „Harry Potter und der Gefangene von Askaban"... Du kennst doch die Stunde Wahrsagen in der Ron Harry prophezeit das Harry leiden wird, aber sich unglaublich drüber freut?" Ich nickte. Mit diesen Büchern hatte ich lesen gelernt, und die Filme hatte ich in mittlerweile drei Sprachen gesehen. Nur verstand ich nicht, was das für das Kommende bedeuten sollte. „So ähnlich ist es bei dir. Du wirst weiterhin leiden,aber in deiner Dunkelheit gibt es immer einen kleinen Funken Licht.Trotz deines Leidens wirst du irgendwie glücklich sein." Erdrückte meine Hand leicht. Eine Träne lief ihm jetzt über die Wange. „Versprich mir, dass du dich an das Licht klammerst, bitte.Du darfst nicht zum Monster werden."

Mit einem schweren Kloß im Hals nickte ich. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich in der Lage sein würde dieses Versprechen zu halten.Schweigend saßen wie nebeneinander. Ich dachte über die fast vollständige Aussichtslosigkeit meiner Zukunft nach und unterdrückte meine Tränen,bis meine Erschöpfung mich irgendwann übermannte und ich einschlief.

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