Kapitel 4

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Sven war nicht zu Hause. Ich fuhr mit dem Bus und erreichte unsere Wohnung nach einer halben Stunde, während der ich ständig versuchte, ihn zu erreichen. Doch Sven war nicht da. Ich versuchte es auf seinem Handy und fand es in der halb eingerichteten Küche. Langsam wurde ich unruhig. Sven ging nie ohne sein Handy aus dem Haus. Nie. Ich schmiss meine Tasche auf den Boden und rief „Sven? Schläfst du?" Keine Antwort. Also war er nicht wach, wenn er denn da war. Ich ging ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa lagen seine Aktentasche und sein Jackett. „SVEN!" schrie ich und rannte ins Schlafzimmer. Doch auch hier war keine Spur von ihm zu finden. Ich atmete tief durch und versuchte, die aufkommende Panikattacke zu verhindern. Mit zitternden Händen wählte ich die Nummer seiner Mutter. Sie war querschnittsgelähmt und vielleicht hatte sie einen Unfall oder dergleichen gehabt. „Hallo?" Sie hörte sich nicht so an, als wäre sie in Schwierigkeiten. „Margit, hier ist Nora. Ist Sven bei dir?" „Nein, natürlich nicht! Wie kommst du darauf? Ist heute nicht das Meeting? Du hörst dich so gehetzt an meine Liebe. Ist alles in Ordnung?" „Sven ist weg." „Wie-Weg?" Sie klang verwirrt. „Ich weiß es nicht, ich melde mich wieder." „Sag mir sofort Bescheid, wenn du ihn gefunden hast. Ich ruf dich an, wenn er hier auftauchen sollte." Ich murmelte ein „Danke" und legte auf. Auf dem Weg zurück in die Küche ging ich im Kopf alle möglichen Szenarien durch. Aber nichts schien Sinn zu machen. Sven ging nie ohne wenigstens eine Nachricht zu hinterlassen. Selbst in Notfällen nahm er sich immer die Zeit einen Zettel zu schreiben. Und etwas anderes als ein absoluter Notfall hätte ihn nicht davon abhalten können, zu diesem Meeting zu gehen. Auf dem Weg konnte ihm ebenfalls nichts passiert sein, seine Sachen lagen schließlich noch auf dem Sofa. Ich stieß einen kleinen Schrei der Verzweiflung aus und raufte mir die Haare. Das konnte doch nicht wahr sein. Der Tag war schon beschissen genug. Ich wischte mir wieder über mein Gesicht und holte ein weiteres Mal tief Luft. Ich versuchte, irgendwo im Haus ein Lebenszeichen wahrzunehmen. Nichts. Nur ein stetiges Rauschen, das wahrscheinlich von den Leitungen kam. Dann machte ich mich daran, die übrigen Räume zu kontrollieren. Inzwischen war ich mir sicher, dass Sven etwas passiert war. Hier in unserer Wohnung. Es gab einfach keine andere Erklärung für seine Abwesenheit. Ich erinnerte mich an das seltsame Telefonat vorhin. Mit einem Mal machte sich ein schreckliches Gefühl in mir breit und ich begann, am ganzen Körper zu zittern.

Das Esszimmer und sein Arbeitszimmer, das gleichzeitig mein Atelier war, waren leer. Fehlte nur noch das Bad. Ich lief durch den Flur und versuchte, die Tür zu öffnen. Panisch stellte ich fest, dass sie verschlossen war. Das Rauschen, das ich anfangs für die Leitungen gehalten hatte, wurde plötzlich lauter.. Etwas kaltes berührte meine Füße und ich schrie auf. Unter der Tür sickerte Wasser hindurch und es bildete sich eine immer größer werdende Pfütze auf dem Boden. Schreiend rüttelte ich weiter an der Tür. „SVEN! SVEN BIST DU DA DRIN?" Keine Antwort. Doch irgendetwas musste in diesem Badezimmer sein. Es hatte die Tür verschlossen und anscheinend alle Wasserhähne geöffnet. Ich trat, rüttelte schlug und schrie bis ich keine Luft mehr hatte. Dann ließ ich mich verzweifelt an der inzwischen deutlich mitgenommenen Tür zu Boden gleiten und legte meinen Kopf in meine Hände. Ich fuhr mir wieder durch die Haare und gab einen erstickten Schluchzer von mir. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung und befahl mir immer wieder ruhig zu bleiben. Mein Blick fiel auf die Pfütze, die sich inzwischen durch den dunklen Flur beinahe bis zum Wohnzimmer ausgebreitet hatte. Mit einem Mal wurde ich mir meines Herzschlags bewusst. Er ging sehr laut und sehr schnell. Mühselig kam ich wieder auf die Beine und mit zitternden Händen drückte ich auf den Lichtschalter. Ich hatte mich nicht getäuscht. Die Pfütze hatte sich verdunkelt. Das Wasser färbte sich rot.

Ich war weder in der Lage zu atmen, noch mich zu bewegen. Ich stand einfach nur da und beobachtete, wie sich das Rot in dem Wasser verteilte. Erst nach einigen Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, realisierte ich, dass dieses Rot Blut sein musste und aus unserem Badezimmer floss. Jemand verlor viel viel Blut in unserem Badezimmer. Das Gefühl in meinem Inneren raubte mir kurz den Atem. Mit einem Schlag wurde mir klar, was sich aller Wahrscheinlichkeit nach hinter dieser Tür befand. Ich warf mich mit aller Kraft dagegen, und wie durch ein Wunder sprang sie beim dritten Mal auf. „SVEN!" schrie ich ein weiteres Mal. Doch er hörte mich nicht. Er konnte mich nicht mehr hören. Er lag in der Badewanne. Wasser lief aus dem Hahn. Sein Kopf hing unnatürlich weit nach hinten, und aus seiner zerschnittenen Kehle lief Blut und färbte Badewasser dunkelrot.

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