Kapitel 1

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Ich lag auf dem Sofa und zappte durch unsere neuen Pay-TV Sender, als ich die Nachrichten aus New York bemerkte. Geschockt starrte ich auf die wechselnden Bilder weinender Menschen, zusammenstürzender Gebäude und widerlich aussehender Kreaturen. Mittendrin war eine Gruppe von Menschen, die sich die Avengers nannten. Natürlich hatte ich schon von ihnen gehört, wer hatte das nicht? Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die hin und wieder in Zusammenhang mit Katastrophen in den Nachrichten auftauchten. Ich schaltete durch die Bilder und blieb schließlich bei einem Bericht über die Angreifer hängen. Außerirdische. Wir waren also nicht alleine. Der Gedanke beunruhigte mich aus irgendeinem Grund nicht. Überrascht war ich auch nicht sonderlich. Auf dem Bildschirm erschien ein Handyvideo, auf dem ein Mann in einer grün goldenen Rüstung und einem seltsam leuchtenden Stab auf dem potthässlichen Stark-Tower mit einem blonden Krieger mit einem Hammer kämpfte. Das Video brach ab als eine gigantische geflügelte Schlange dicht an der Kamera vorbeiflog und die Person mit dem Handy umwarf. Glas zersplitterte und Schreie erklangen. Ich schaltete schnell um. Weinende Menschen. Trümmer. Hinterbliebene. Avengers. Wie gebannt starrte ich auf den Fernseher und schrak deswegen heftig zusammen, als sich eine kleine Hand auf mein Knie legte. „Nana warum weinst du?" fragte meine kleine Schwester mich mit großen Augen. Erst jetzt bemerkte ich die Tränen, die mir die Wangen herunterliefen. Wie sollte ich meiner vier Jahre alten kleinen Schwester erklären was da in New York vor sich ging? Das nicht mal die stärksten und außergewöhnlichsten Menschen uns vor der Gefahr von außerhalb schützen konnten? Das wir nicht einmal wussten, was außerhalb war? Ich nahm sie in den Arm und wischte mir die Tränen aus den Augen. „In New York sind sehr sehr viele Menschen in den Himmel gegangen, mein Schatz." sagte ich. Das war das Beste was mir in dem Moment einfiel. „Wie Kartoffelbrei?" fragte sie mich entsetzt. Kartoffelbrei war der Name unseres verstorbenen Katers. „Ja, wie Kartoffelbrei meine Süße." Sie sah ein wenig nachdenklich aus. „Wie viele sind es denn?" fragte sie. Mir schoss eine Zahl durch den Kopf, bei der mir wieder die Tränen kamen. „Viele, sehr viele." antwortete ich. Sie legte die Stirn in Falten und schien sehr angestrengt nachzudenken. Plötzlich riss sie erschrocken den Mund auf. „Aber unser Garten ist so klein!" Ich musste lachen. Sie dachte an die kleine Ecke unter dem Rhododendron, wo wir Kartoffelbrei damals mit einer großen Zeremonie beigesetzt hatten. „Die kommen alle in einen großen Garten in Amerika!" erklärte ich ihr mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Ich hörte das Auto auf der Auffahrt und sagte ihr, dass sie unsere Mutter begrüßen sollte. Begeistert rannte sie zur Haustür und ich schaltete den Fernseher aus, auf dem gerade Tony Stark alias Iron Man zusehen war, wie er auf ein großes Loch im Himmel zuflog, aus dem sich die ekelerregenden Wesen wie Ameisen über der Stadt ergossen.

Beim Abendessen wurde die weit entfernte Katastrophe in New York von einer lokalen in den Hintergrund gedrängt: Wir hatten Pizza bestellt, und Eva hatte darauf bestanden, die Kartons ins Wohnzimmer zu tragen. „Gerade halten, Eva!" schrie meine Mutter ihr noch hinterher, doch es war zu spät. Wir folgten einer Spur aus extra Oliven und Pilzen ins Wohnzimmer, wo eine strahlende kleine Eva zwischen drei geöffneten Pizzaschachteln saß und deren Inhalt ordentlich auf dem Boden verteilte. „Was MACHST du denn da???" rief meine Mutter. „Na wir müssen doch teilen! Papa hat gesagt das man die man mehr hat Leuten geben soll, die weniger haben." sagte sie Ernst und beförderte eine Olive, an der reichlich Käse und ein Stück Zwiebel hingen, auf meine ehemalige Margherita. Ich kringelte mich vor Lachen und setze mich neben meine kleine Schwester. „Du hast Recht, Mama hat viel zu wenig Oliven." sagte ich und schnappte mir zwei von Evas Pizza um sie auf der ehemaligen Funghi meiner Mutter zu platzieren. Meine Mutter hasste Oliven. „Oh, aber Nora hat doch noch gar keine Pilze!" reif sie und grinste mich an. Ich hasste Pilze. Damit war eine regelrechte Schlacht eröffnet, und am Ende pulte sich jeder das, was er nicht mochte von der inzwischen lauwarmen Pizza und legte es auf den Tisch. Es war ein ganz lustiger Abend, und irgendwann während „Bibi&Tina" (Bibi war Evas Heldin) hörte ich das Auto meines Vaters. Ich stupste Eva an und sie lief aufgeregt zur Tür. Doch schon bald kam sie schmollend zurück. „Das ist nicht lustig!" rief sie. „Papa kommt ja gar nicht!" Verwirrt ging ich zur Haustür. In dem Moment bog ein Auto auf die Auffahrt. Es war so laut. „JETZT ist er da, JETZT ist er da, Papi Papi Nora ist doooooooooof!" schrie sie aufgeregt, während sie aus der Tür rannte um unseren Vater zu begrüßen. Lachend hob er sie in die Luft und sah mich über ihre Schulter hinweg an. „Wieso bist du denn doof mein Schatz?" fragte er. „ICH bin nicht doof, Nora ist doof. Nora hat gesagt du kommst aber du warst nicht da." antwortete Eva für mich. Mein Vater runzelte die Stirn und warf mir einen missbilligenden Blick zu. „Du sollst sie doch nicht so ärgern." flüsterte er mir zu als er das Haus betrat. „Ich habe wirklich gedacht, dass ich dein Auto gehört hab!" erwiderte ich entrüstet. „Wir reden da später noch einmal drüber." sagte er und folgte Eva ins Wohnzimmer,wo sie ihm stolz zeigte wie toll sie teilen konnte. Er lachte und setzte sich neben meine Mutter und gab ihr einen Kuss. „Wieso hast du so lange gebraucht?" fragte sie. Er seufzte. „Wir mussten neue Anrufbeantworter und Standardmails vorbereiten. Die Leute wollen sich unbedingt gegen Außerirdische versichern lassen." Er nahm meine Mutter in den Arm. „Aber lass uns nicht von Versicherungen reden, was habt ihr so gemacht?" Meine Mutter erzählte von ihrem Tag im Krankenhaus, sie war dort leitende Krankenschwester. Ich erzählte von meinem Tag in der Kunsthochschule. Eva erzählte stolz von ihrem Tag im Kindergarten und der riesigen Sandburg, die sie und ihre Freunde gebaut hatten. „Sie war soooooo groß, aber dann kam der gemeine Jonas und hat alles kaputt gemacht. Aber morgen bauen wir ein noch GRÖßERES!" Und wir alle hatten die Ereignisse in New York beinahe vergessen. Meine Mutter brachte Eva ins Bett und legte sich danach selber schlafen. Mein Vater und ich saßen noch eine Weile in der Küche. „Wieso hast du Eva eben gesagt das ich schon zuhause bin?" fragte er. „Ich hab dein Auto gehört..." „Aber zu dem Zeitpunkt war ich noch zwei Straßen entfernt!" „Es hat sich trotzdem so angehört! Hab mich eben getäuscht...." Er sah mir lange in die Augen. Er wusste, dass ich log. Ich hatte sein Auto gehört. Laut und deutlich. Ich konnte sogar sagen, welches Lied gerade im Radio lief. Doch ich schwieg lieber, und er tat es auch. „Du kannst jeder Zeit zu uns kommen und mit uns reden, auch wenn du bald nicht mehr hier wohnst, das weißt du doch, oder?" Ich lächelte ihn an und nickte. „Und wir sollen dir wirklich nicht beim Umzug helfen?" Der Themenwechsel kam so plötzlich, dass ich für einen kurzen Moment nicht wusste, was er meinte. Doch dann viel es mir wieder ein und ich grinste. „Nein, ich kann mich glücklich schätzen wenn Sven mich eine Vase tragen lässt! Wir kriegen das auch alleine hin. Zur Einweihung seid ihr aber eingeladen!" sagte ich. „Na gut. Ab ins Bett mit dir, du solltest morgen ausnahmsweise mal pünktlich sein." Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn und ich ging nach oben in mein Schlafzimmer. Die Tür zu Evas Zimmer war nur angelehnt. Ich schlich mich so leise es ging daran vorbei, da fragte sie „Nora, kannst du mir gute Nacht sagen?" Ich ging hinein und setzte mich auf die Bettkante. „Gute Nacht meine kleine Pusteblume." sagte ich und kitzelte sie an den Füßen. Sie kicherte und sagte „Gute Nacht du großer doofer Löwenzahn!" Dieser Dialog war eine Art Ritual zwischen uns beiden. Es würde mir in der neuen Wohnung am meisten fehlen. Ich küsste ihre Nase und ging langsam aus dem Raum. „Was ist Amerika?" fragte Eva plötzlich, und ihre Stimme klang ängstlich. „Ein großer Kontinent, auf der anderen Seite des Meeres." antwortete ich. „Sind die Gärten da wirklich groß genug?" „Ja, Amerika ist viel größer als Deutschland." Ihre Fragen beunruhigten mich ein wenig. Sie machte sich zu viele Gedanken. „Und kommen die Monster auch zu uns?" Erstaunt sah ich sie an. Sie blickte mich mit ihren großen, braunen Kinderaugen an, in denen sich Tränen sammelten. Bestürzt kehrte ich zur Bettkante zurück und nahm ihre Hand. „Nein, die Monster sind weg. Und Amerika ist ganz weit weg. So lange wir hier sind und Mama, Papa, Du und Ich uns lieb haben und zusammenhalten kann nichts passieren." Sie nickte und drückte meine Hand ganz fest. Ich blieb bei ihr bis sie eingeschlafen war und dachte über meine Worte nach. Sie klangen seltsam und fehl am Platz. Sie klangen nach nichts Großem, und doch hatte ich plötzlich das Gefühl, vor einer unaufhaltsamen Flutwelle zu stehen. Und plötzlich war ich mir nicht sicher ob die Monster weg waren, und mir fiel kein Grund ein, der sie davon abhielt nach Europa zu kommen.

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