Zwei.

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Hey Angel,
do you know the reason why
we look up to the sky?

Lautstark prasselte der Regen gegen das Fenster, das als einziges keine Vorhänge besaß und durch dessen Glas der Vollmond noch immer auf das Bett strahlte, in dem Harry sich nun seit Stunden umherwälzte. Es war eine furchtbare Nacht. Der Donner grollte und Harry befürchtete, dass jeden Moment ein Blitz in die Stromleitung einschlagen könnte. Seufzend stand er auf und lief im Dunkeln zur Fensterbank, stützte sich mit den Händen drauf und starrte minutenlang nach draußen. Er musste an seine Schwester denken, die er gestern besucht hatte. Sie hatte sich frisch von ihrem Freund getrennt, weil ihm seine Arbeit wichtiger war, als sie. Bis in die späten Abendstunden hatte Harry sie getröstet, hatte ihr Tee gemacht und Kuchen gekauft. Nicht zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl gehabt, er müsse nun den großen Bruder spielen, obwohl er drei Jahre jünger war. Gemma und er waren Geschwister, wie es sich wohl jeder Elternteil wünschte. Im Allgemeinen hatten beide ein gutes Verhältnis zu ihrer Familie. Ihre Eltern waren getrennt, doch ihre Mutter Anne hatte bereits wieder geheiratet: Robin. Er war ein guter Stiefvater. Harry arbeitete bei seinem Vater Des in der Firma seit er das Abitur letztes Jahr bestanden und ein halbes Jahr ein Praktikum bei einem Musiklabel absolviert hatte, was ihm jedoch nicht allzu gut gefiel. Die Arbeit in der Anwaltskanzlei lag ihm mehr, auch wenn er oft an den Haufen Arbeit dachte, der in der Firma noch auf ihn wartete. Aber vor allem dachte er in dieser Sekunde an Avery. Sie ging ihm nicht aus dem Kopf. Was hatte dieses Mädchen nun bloß mit ihm angestellt?

Übermüdet schlich er wieder in sein Bett, bekam jedoch noch immer kein Auge zu. Gedankenverloren kratzte er an der Haut neben seinem Daumennagel herum und drehte sich auf die Seite, um auf seinen Wecker zu sehen. Kurz vor vier. In einer Stunde würde die Sonne langsam aufgehen. Und irgendwie schaffte er es, für zwei Stunden noch einmal einzuschlafen.

Mit dem Licht im Gesicht und dem Geräusch des lautstarken Regens am Fenster wachte er auf und ärgerte sich, wie jeden Morgen darüber, dass sein Fenster kein Rollo hatte. Alle anderen Räume seiner Wohnung besaßen eines, nur der wichtigste nicht. Harry war ein Frühaufsteher und war oft vor Sonnenaufgang wach, es war ihm mittlerweile relativ egal geworden. Er warf die Decke beiseite und stolperte über einen Haufen Klamotten, als er sich auf den Weg zum Kleiderschrank machte. Er zog sich seine Sportsachen an, steckte sich sein Handy und die Kopfhörer in die Hosentasche und begab sich nach draußen, um eine halbe Stunde zu laufen – wie er es drei Mal die Woche tat. Auf dem Rückweg stoppte er beim Bäcker, der ihm mittlerweile Rabatte gab, weil er ihn so gut kannte, und nahm sich drei Brötchen mit. Es nieselte nur noch ein wenig, trotzdem hinterließen seine Haare Wasserspuren, als er seine Wohnung betrat.

Sofort stellte er sich unter die Dusche, ließ sich das warme Wasser über die Haut laufen und blendete endlich all seine Gedanken aus. Fertig umgezogen in einer schwarzen Jeans und einem grauen Pullover setzte er sich in der Küche an den Tisch und bereitete sein Frühstück zu. Seine Wohnung war geräumig, aber nicht zu groß. Wenn man eintrat würde man nicht vermuten, dass seine Familie sehr viel Geld hatte. Doch sein Auto war teuer. Er konnte jederzeit in den Urlaub fliegen. Er hatte die halbe Welt gesehen. Und trotzdem achtete er beim Bäcker darauf, nicht die teuersten Brötchen zu nehmen.

In einem Regal in der Küche standen etliche Kochbücher; nebeneinander, aufeinander und voreinander gestapelt. Harry liebte das Kochen. Genauso wie er es liebte, Gitarre zu spielen. Und zu Joggen. Man brauchte immer einen Ausgleich zur Arbeit. Heute hatte er glücklicherweise frei, musste erst morgen um neun Uhr wieder hin.

Er hatte das erste Brötchen gerade aufgeschnitten und mit Käse belegt, da klingelte es an der Tür. Es war erst kurz vor halb neun, wer wollte um die Uhrzeit schon etwas von ihm? Mit dem Brötchen in der Hand und dem ersten Bissen im Mund, machte er sich kauend auf den Weg zur Tür und entriegelte sie. Doch niemand stand davor. Stirnrunzelnd sah er die Treppen herab, sah jedoch niemanden. Also beschloss er nach unten zur Haustür zu gehen, da er im zweiten Stock wohnte. Vielleicht war es ein Postbote, der ausnahmsweise nicht hereinkam und die Bewohner des ersten Stocks waren vielleicht nicht da. Er steckte sich den Schlüssel ein und schloss seine Wohnungstür, eilte die Marmortreppen nach unten. Er erreichte die Glastür – und verschluckte sich beinahe an seinem Brötchen. Mit aufgerissenen Augen blieb er stehen und rührte sich kein Stück. Durch die Glastür sahen ihn zwei braune, flehende Augen an. Harrys Herz pumpte schneller, als es es normalerweise nach dem Sport tat und er bekam sein Stück Brötchen nur mit aller Mühe herunter.

Avery. Das Mädchen von letzter Nacht stand klitschnass vor seiner Tür, sah aus, als hätte sie lange nicht mehr geschlafen und starrte mit hängenden Schultern in Harrys grüne Augen.

„Was zur Hölle", murmelte er geschockt und trat unsicher näher zur Tür, um sie zu öffnen. Langsam drückte er die Klinke herunter, sagte nichts. Avery sah ihn ängstlich an, wusste nicht, mit welcher Reaktion sie rechnen sollte. Sie hatte gedacht, er würde gar nicht erst öffnen oder ihr vorwerfen, eine Stalkerin zu sein, aber dass er gar nichts sagte? Das wunderte sie. Jedoch machte sie sich keine großen Hoffnungen, denn er wusste den Grund für ihr Kommen schließlich noch nicht. Es kann alles noch passieren.

„W-Wie?", stotterte Harry, wusste nicht, was er sagen sollte.

„Harry, oder?", erkundigte Avery sich mit zitternder Stimme, um ein Gespräch zu beginnen. Der Angesprochene nickte bloß. „Hör zu, ich ... Du wunderst dich jetzt bestimmt, wie ich hergefunden habe. Ich möchte nicht ..." Sie hörte auf zu sprechen, denn sie zitterte am ganzen Leib, so kalt war ihr. Und sie hatte Angst.

„Was machst du hier?", schaffte Harry es nun, endlich etwas zu sagen, noch immer überwältigt, von der Situation. Es begann wieder stärker zu regnen und der Wind blies die Regentropfen durch die offene Tür ins Treppenhaus. Harry fröstelte etwas, doch die Kälte war seiner Meinung nach nicht wirklich schuld. Da stand ein Mädchen vor seiner Tür, das er letzte Nacht vor dem Selbstmord bewahrt hatte, das eigentlich keine Ahnung haben sollte, wo er wohnte. Denn wer wusste, welche kranken Gedanken ein solcher Mensch haben könnte? Sie könnte sich an Harry rächen, weil er ihr den großen Auftritt versaut hatte. Oder sie könnte ihn in alles mit hineinziehen. Er könnte ihr die Tür vor der Nase zuschlagen und die Polizei rufen, doch er war neugierig. Er wollte wissen, wieso sie ihn aufgesucht hatte und was sie nun von ihm wollte. Er wollte wissen, wer sie war.

Also sagte er: „Komme erst einmal rein, wir werden klitschnass." Er trat einen Schritt nach hinten und ließ sie ins Treppenhaus eintreten, schloss danach die Tür.

„Danke", flüsterte sie.

„Also?", drängelte Harry sie, doch sie sah nicht danach aus, als wisse sie, was sie sagen sollte. „Gut, wenn du nicht redest, tue ich es eben. Was denkst du, was ich gerade denke? Da steht ein Mädchen vor meiner Haustür, weiß wo ich wohne und hat weiß Gott für kranke Gedanken. Tut mir leid, wenn ich gerade etwas unfreundlich herüberkomme, aber ich mache mir minimale Sorgen", sprach Harry hektisch weiter, war von einem unguten Gefühl überfallen worden.

Nun ergriff Avery endlich das Wort, nachdem sie unsicher die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte: „Es tut mir leid, falls du denkst, ich sei ein gruseliger Stalker. Das bin ich nicht, wirklich. Ich bin dir gestern Abend hinterhergelaufen. Ich wusste nicht, wohin, hatte aber auch Angst, bei dir zu klingeln. Deshalb habe ich hier übernachtet und bis heute gewartet. Ich habe dich gesehen, als du vom Joggen heimkamst und mich dann überwunden. Ich wusste wirklich nicht wohin, Harry."

„Wie, du hast hier übernachtet?" Stirnrunzelnd sah Harry sie an, versuchte, ihre Worte zu verarbeiten.

„Da vorne auf der Bank", presste sie hervor und war den Tränen nahe. Oh Shit.

➳➳➳
Ja, hier ist Robin noch am Leben, auch, wenn er uns in der Realität leider verlassen musste. Aber in dieser Geschichte wird er voraussichtlich eine wichtige Rolle spielen.

Das Update bei Lichtblicke wird noch etwas dauern, aber dafür geht es hier weiter:)

Hoffe es gefällt euch soweit!

Miracle ➳ Harry StylesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt