Eins.

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Freitag der 13. Juli

Die lauwarme Sommerluft atmete Harry ein, als er die dunkle Gasse entlanglief. In dieser Nacht war der Himmel über London sternenklar und der Vollmond erhellte die Straßen. Menschen waren noch unterwegs, eine typische Freitagnacht. Der dunkel gekleidete, junge Mann sah auf seine Schuhe, unter deren Sohlen der Asphalt kratzte. Seine Armbanduhr zeigte ihm Viertel nach Elf. Mit einer Hand fuhr er sich durch die braunen, relativ kurz geschnittenen Locken und hob den Blick. Seine grünen Augen fixierten das Bahnhofsschild. Das braune Gebäude wirkte fast schwarz in der Dunkelheit der Nacht. Die Ärmel seines Shirts hingen ihm leicht über die Hände, welche er in den Taschen seiner Jeans vergrub. Er war auf dem Nachhauseweg, hatte seine Schwester in der Londoner Innenstadt besucht. Seine Wohnung war mit dem Zug innerhalb von fünf Minuten zu erreichen. Er könnte eine normale Straßenbahn nehmen, doch sie würde voll von Betrunkenen sein und außerdem dauerte die Fahrt länger. Er nahm lieber den Zug.

Er hustete kurz, lief eilig unter dem Tor des Bahnhofs entlang und hoffte darauf, dass der Zug bereits da war und er schnellstmöglich nach Hause kam. Der warme, unangenehm riechende Untergrundgeruch umhüllte ihn und Harry roch bereits am Eingang, dass etliche Bierflaschen in einer Ecke liegen mussten. Der Brite war in seinem Leben bereits in einigen Städten gewesen, doch London war eine der dreckigsten. Bei Sonnenschein wirkte alles wunderschön, doch bei Nacht und in abgelegeneren Gegenden fühlte sich niemand wirklich wohl. Harry liebte die Stadt trotzdem.

Er lauschte dem Geräusch, welches seine Schuhsohlen auf dem Steinboden hinterließen und bog nach links, wo sein Zug halten sollte. Und da sah er sie. Von hinten erkannte er nur ihre braunen, schulterlangen Haare und ihren schwarzen Pullover, ihre dünnen Beine und das Schild, welches den Halt des letzten Zuges für heute in weniger als zwei Minuten anzeigte. Sie schien eine junge Frau zu sein, die ebenfalls auf den Zug warten musste, denn sie stand still und blickte in Richtung des Gleises. Außer den beiden befanden sich durchaus mehr Menschen an der Bahnhofsstation, doch keiner beachtete sie. Die Leute sahen auf ihre Smartphones.

Es vergingen sechzig Sekunden, in denen alle Anwesenden stumm ihren Gedanken nachhingen. Der Zug würde in einer halben Minute ankommen. Die Fremde stand nahe am Bahngleis. Zu nahe, wenn es nach Harry ging. Stirnrunzelnd trat der 19-Jährige näher. Eine Durchsage kam durch die Lautsprecher. Man solle sich vom Gleis fernhalten. Doch die Unbekannte ging nur noch näher heran. Harry wurde etwas mulmig, gerade als er sah, dass die Frau etwas torkelte. Doch sie schien alt genug zu sein, also würde sie wohl wissen, was sie da tat. Man hörte den Zug. Das Gleis wurde erhellt. Der Zug quietschte laut, als die Bremsen gezogen wurden, doch bevor er halten konnte, machte die Fremde erneut einen hastigen Schritt nach vorn und wäre Harry in diesem Moment nicht zu ihr gerannt, um sie in letzter Sekunde nach hinten zu ziehen, wäre sie nun vermutlich nicht mehr am Leben.

Stöhnend hielt Harry sich den Kopf, als er vom Boden aufstand und klopfte sich die Hände an seiner schwarzen Jeans ab. Die Brünette lag auf dem Bauch auf dem kalten Stein und atmete schwer.

„Spinnen Sie?", zischte Harry ihr zu, ignorierte die gaffenden Blicke der anderen Leute, die nun in den Zug stiegen.

„Das war der letzte Zug", murmelte das Mädchen und rappelte sich langsam auf, „Das war der entscheidende Zug." Sie lallte ein wenig und wirkte etwas abwesend – definitiv Alkohol.

Und dann sahen sie sich in die Augen. Das war vermutlich der Moment, der etwas in beiden auslöste, was sie ändern würde. Was ihr Leben grundlegend ändern würde, doch noch wusste es keiner von ihnen. Das war der Moment, indem sich Harry Styles und Avery Lancer zum ersten Mal gegenüber standen. In der Nacht vom Freitag des 13. Julis – den Harry bisher nur als Unglückstag erlebt hatte. Er war nicht abergläubig, doch sein Lieblingstag war es nie.

Harry kam aus der reichen Szene. Geld, Geschäftsessen und teure Feiern auf Hawaii oder in New York waren seine Welt. Avery war nicht wirklich das Gegenteil. Ihre Eltern hatten viel Geld geerbt, Avery gab es jedoch für Alkohol und Partys aus. Die Politikklausur, die sie heute Morgen in der Schule zurück bekam, hatte sie vor etwa drei Stunden in einen Mülleimer im Park gesteckt. Die Sechs konnte sie niemandem zeigen.

Als Harry ihr so in die Augen sah, stellte er fest, wie unheimlich jung sie sein musste – er schätzte sie auf 16 – und fragte sich, weshalb sie betrunken an einem Bahnhof herumlungerte und ihrem Leben scheinbar ein Ende setzen wollte. Natürlich – sie war betrunken und wusste vielleicht nicht, was sie tat, doch niemand würde grundlos auf die Idee kommen, sich auf die Gleise zu werfen, egal, wie viel Alkohol man intus hatte.

„Hey", sprach er sie daraufhin an, als sie ihren Blick abwandte. Er sah die Tränen in ihren Augen und sie begann zu schniefen: „Ich wollte das doch alles nicht."

Harry packte sie sanft am Arm, damit sie nicht umfiel und erkundigte sich: „Was hattest du vor? Was ist passiert?"

„Das erzähle ich doch keinem Fremden", murmelte das Mädchen, versucht sich aber nicht aus seinem Griff zu lösen. Vielleicht brauchte sie jemanden, der ihr Halt gab.

Harry seufzte: „Nun gut. Ich bin Harry Styles, 19 Jahre alt und bin vor einem Jahr in die Anwaltsfirma meines Vaters eingestiegen. Ich bin auf dem Weg nach Hause und frage mich nun, was ein junges Mädchen dazu gebracht hat, dass es kein anderen Ausweg mehr sieht, als sich vor einen Zug zu werfen. Jetzt bin ich nicht mehr allzu fremd. Also, was geht in deinem Kopf vor sich?"

Ihre braunen Augen faszinierten ihn auf eine Weise, wie es vorher niemand getan hatte. Die dunklen Haare umrahmten das hübsche Gesicht und brachten die großen Augen zur Geltung. Sie könnte als Model arbeiten, so schön fand Harry sie. Sie schloss für kurze Zeit müde die Lider und als sie sie wieder öffnete, waren ihre Augen rot und mit Tränen befüllt.

„Ich kann nicht", schluchzte sie und entzog sich nun doch Harrys Hand. Sie drehte sich schnellstmöglich um und wollte davoneilen, doch Harry rief ihr hinterher: „Dann verrate mir wenigstens deinen Namen!"

„Avery Lancer!", erwiderte sie, drehte sich jedoch nicht noch einmal um. Sie verschwand in der Dunkelheit des Bahnhofs und da Harry es nicht riskieren wollte, von ihr als Stalker abgestempelt zu werden, ließ er sie gehen. Avery Lancer, das Mädchen, welches er vor dem Selbstmord bewahrt hatte. Freitag der 13. war immer ein furchtbarer Tag gewesen, doch der heutige toppte einiges. Wäre Harry auch nur eine Minute später angekommen, hätte er ein totes Mädchen auf den Schienen gefunden. Dann hätte er als Zeuge aussagen müssen, würde jede Nacht von dem Bild träumen, welches sich ihm geboten hätte und würde sich vermutlich Vorwürfe machen. Doch er hatte sie gerettet. Hatte ihrem Leben eine zweite Chance gegeben. Und nun würde er sie vielleicht nie wieder sehen. Der Zug war abgefahren, Harry war allein am Bahnhof. Jetzt musste er doch eine Straßenbahn nehmen, aber es war ihm egal. Avery ging ihm nicht aus dem Kopf. Die ganze Zeit dachte er an ihren Namen und ihre Augen, wie viel Leid und Erschöpfung sie ihm zeigten.

Er kam erst nach Mitternacht in seiner Wohnung an, da er mit Absicht langsam gelaufen war, um seine Gedanken zu sortieren. Dort griff er sich sein Smartphone und gab den Namen bei Google ein. Finden tat er nichts. Keine Social Media Seiten und auch nichts im örtlichen Telefonbuch. Sie war spurlos verschwunden und er würde sie nie wieder sehen. Harry wusste, dass er sie einfach vergessen sollte und darauf hoffen, dass sie so etwas nicht noch einmal tat und heil zuhause angekommen war, doch es war ihm nicht egal. Sie hatte ihn unbewusst in ihr Leben hineingezogen und sie war nun auch ein Teil seines Lebens. Er musste herausfinden, wer sie war und was sie so fertig gemacht hatte. Denn egal, was passiert war - niemand sollte den Tod als letzten Ausweg sehen.

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Ohh Leute, ich bin so gespannt, was ihr sagen werdet. Es ist noch etwas kurz, aber die Kapitel werden länger - versprochen. Hinterlasst mir bitte unbedingt Rückmeldung, ich würde mich sehr freuen ♡

Alles Liebe, Lina

01.08.2017

Miracle ➳ Harry StylesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt