Kapitel 1

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23. Juni 2022

Ich verstehe es einfach nicht! Wie konnte es nur passieren!?

Diese Fragen stellte ich mir jeden Tag. Jeden Tag, wenn ich meine Augen öffne, wenn ich draußen auf meinem Baum sitze und das Gebäude betrachte in dem ich lebe, wenn ich in der Kantine in der Schlage stehe um mir essen zu holen, wenn ich in der Klasse sitze und den Lehrern beim reden zusehe, aber nicht hinhöre und wenn ich abends im Bett liege und die Decke anstarre.

Wie konnte es passieren, dass ich hier, in einem Kinderheim für Vollwaise wohnen muss?

Meine Eltern sind tot. Deswegen.
Sie starben, ganz nach dem Klischee bei einem Autounfall.
Und da weder meine Mum noch mein Dad Geschwister oder Eltern hatten, zu denen ich hätte ziehen können, bin ich jetzt hier.

In einem Kinderheim, in der Hoffnung endlich adoptiert zu werden, weil es hier einfach scheiße ist. Das Essen, der widerliche Geruch in den Fluren, die Arbeiter hier und meine Mit-Waisen.
Aber so langsam stirbt die Hoffnung für mich, denn niemand will eine 16-jährige. Eine pubertierende, wahrscheinlich drogenabhängige, die einem nur den Nerv rauben wird.

Ich bin mit vier Jahren hier rein gekommen. Ich hatte sogar eine beste Freundin. Sie ist am selben Tag hier eingeliefert worden, aber Monate später schon adoptiert...
Und ich? Mich will anscheinend niemand.

Ich glaube ihr könnt euch denken, wie meine Unterarme wohl aussehen, wenn ich verzweifelt versuche 12 Jahre allein zurecht zu kommen.
Und es fällt mir so extrem schwer, weil ich noch weiß, wie es ist, es nicht zu sein.
Ich kann mich noch erinnern, wie es war geliebt zu werden, jemanden zu haben, mit dem ich reden und spielen konnte und etwas zu haben woran ich festhalten konnte.
Und das wurde mir mit einem Ruck genommen. Mit einem Front-Crash mit einem zweiten Auto.

Meine Lebenslust ist schon so gut wie vollkommen erloschen.
Nur dieses winzige Stückchen Hoffnung, bringt mich dazu mir nicht die Pulsadern längs durch zu schneiden, damit ich auch wirklich verblute.

Und die Arbeiter hier geben einem auch nicht das Gefühl, dass man es Wert ist. Es ist nicht so, dass ich von ihnen erniedrigt, beleidigt oder runtergemacht werde, nein.
Sie interessieren sich einfach nicht für uns.
Ich laufe hier oft mit kurz ärmeligen Oberteilen rum, jeder kann sie sehen, die Narben.
Aber kein einziger hat überhaupt erst hingesehen.
Sie wissen, dass ich mich selbst verletze. Tun aber rein gar nichts.

Ich weiß nicht, ob einer von euch mich versteht, warum ich mir das antue. Vielleicht ja schon, aber es macht mich fertig.
Der Aufenthalt hier macht mich fertig.
Mit jedem Tag schwindet meine Kraft und Lust. Vom Glücklichsein kann man bei mir schon nicht mehr sprechen, als ich dabei zusah, wie meine Eltern unter Qualen starben.
Schreiend und windend unter dem Schmerz ihrer Wunden.
Ich hatte als einzige Glück, auch der Fahrer des anderen Autos ist tot.

Tja. Und ich lebe hier mein lächerliches, elendes Leben.
Ob das gut gehen wird?
Wir werden sehen...





(Fast) ein Jahr später
12. Januar 2023

"Alice? Beeil dich. Die Eltern kommen gleich"

Einer der Arbeiter des Heimes klopfte an meiner Tür und überbrachte mir diese Information.
Ich wischte das Blut schnell von meinem Waschbecken und zog mir einen Pulli an.

Jede Woche kommen "die Eltern".
Eben die, die ein Kind adoptieren wollen. Immer Mittwoch um 12.30 Uhr. Und jetzt ist es eine viertel Stunde davor.
Ich sah schon aus dem Fenster eine Traube von Menschen vor der Eingangstür stehen und reden und zog mir auch noch schnell eine schwarze enge Hose über, bevor ich meine Zimmerschlüssel nahm und nach unten verschwand.

How To Save A Life?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt