Kapitel 5

49 5 0
                                    

Ich lag in meinem Bett und dachte nach. Dachte nach über das Leben, während ich die weiße Decke anstarrte und mein Wecker schon lange geklingelt hatte. Vor meinem inneren Auge schwirrten Bilder herum, in denen ich weinend auf der Schultoilette saß, mit einem blauen Auge aus der Schule lief und das erste mal vor der Tür meiner damaligen Psychologin stand.

Ich fragte mich, wieso einem im Leben so viele grausame Dinge passieren mussten. Alle sagten immer: Das Leben ist schön! Aber ich fand das Leben nicht schön, ich fand nur einzelne kleine Momente schön. Zum Beispiel, wenn ich zusammen mit meiner Mutter in der Küche stand und kochte, oder wenn ich mit Max, Henri, Vincent und Tom im Park saß und rauchte, oder gestern mit Xenia, als wir drei Stunden in der Eisdiele saßen.

Aber reichten diese kleinen, schönen Momente aus, um mich am Leben zuhalten? Konnte ich mich an diesen Momenten festnageln und glücklich werden?

Ich beneidete alle Menschen, die wirklich glücklich waren. Die ihr Leben und sich selbst toll fanden.
Wann würde ich endlich glücklich werden? Wann könnte ich endlich aufhören, über den Sinn des Lebens nachzudenken und diesen zusuchen, wann könnte ich endlich aufhören, über meine Vergangenheit zu denken, zu trauern, Dinge zu bereuen?

Ich schloss meine Augen und versuchte, einen Moment abzuschalten und einfach an nichts zu denken.

Meine Ruhe wurde von meiner Mum gestört, die mich rief. »Cass, bist du schon wach?«

Ich quälte mich aus dem Bett und lief in das Bad. Mit leeren Augen betrachtete ich mich im Spiegel. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, als ich mit meinem Dad im Garten auf der Schaukel saß und er mir etwas auf seiner Gitarre vorgespielt hatte. Langsam schloss ich die Augen. Das alles war so verdammt schwer. Einfach alles. Alle Erinnerungen, die Bilder, die Stimmen, die Gedanken und Gefühle. Es war, als würde mir jemand den Hals zuschnüren, als würde ich keine Luft bekommen und meine Lunge würde fast vor Druck platzen. Als hätte mir jemand tausende Steine auf die Schultern gelegt und ich würde drohen unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen.

Es war schrecklich. Einfach nur schrecklich. Ich vermisste Dad so unglaublich sehr, es zerriss mir mein Herz morgens aufzustehen und ihn nicht in der Küche zu sehen.

Bald waren Herbstferien, da würde ich Mum fragen, ob wir an seinen Grab fahren könnten.

Mir fiel ein, dass Mum in letzter Zeit sich wirklich komisch benahm. Ich merkte, dass irgendetwas nicht stimmte, aber hoffte darauf, dass sie es mir bald erzählen würde.

Schnell machte ich mich fertig und lief wieder in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Mit meinen Haaren stellte ich nichts besonderes an und lief mit meinem gepackten Rucksack hinunter in die Küche.

»Guten Morgen, mein Schatz.« ,begrüßte meine Mutter mich.
»Morgen, Mum.« ,sagte ich und machte mir einen Kaffee.

»Wann hast du heute Schulschluss?« ,fragte sie. Ich setzte mich an den Tisch und nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Heute hatte ich ihn mir mit extra wenig Milch gemacht, ich brauchte viel Koffein.

»Halb drei, wieso?«

»Wollen wir zusammen einkaufen gehen?« Sie setzte sich mit ihrem Jogurt neben mich und lächelte mich an. »Ich bin schon mit Freunden verabredet, Mum sorry.« ,gestand ich.

Sie zog überrascht ihre Augenbrauen in die Höhe. »Mit Freunden? Wer denn?«

»Mit Max, Henri, Vincent, Tom und Xenia.« ,antwortete ich ihr und nahm einen weiteren großen Schluck von meinem Kaffee.

»Ach, sind das die Jungs, die am Sonntag kurz hier waren?«

Ich schürzte die Lippen und nickte. Hoffentlich würde sie nichts dagegen haben.

CassandraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt