Kapitel 6

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Am Abend des zweiten Tages auf der kleinen Lichtung wurde Rhaenys schmerzhaft bewusst, dass es Tristan nicht besser ging. Es war das erste Mal, dass sie es sich wirklich eingestand und verinnerlichte. ,,Es muss ein Wunder geschehen, damit er überlebt. Was mache ich denn nur dann? Er darf…er kann nicht sterben. Nicht hier, nicht jetzt, nicht durch die Hand eines grausamen Mannes und seiner Gefolgschaft, die bereits meine Mutter getötet hatten. Wie kann ich nur mit der Schuld leben, dass, wenn ich mich besser in Heilungsmöglichkeiten und Kräuterkunde auskennen würde, ihn vielleicht hätte retten können?“

Sie hatte sich neben den scheinbar schlafenden Tristan gesetzt und ihren Rücken an einen Baumstamm gelehnt. Eines musste man der Lichtung lassen: es war ein überaus idyllischer Ort, vor allem wenn sich der Tag in den Abend und der Abend in die Nacht wandelte. Langsam versank die Sonne und tauchte das Grün in ein leuchtend schimmerndes Rot. Es war ein prachtvoller Anblick. „Es ist wunderschön, nicht?“ Für einen kurzen Moment erschrak Rhaenys, sie hatte eigentlich erwartet Tristan würde schlafen. Doch er hatte den Kopf zu ihr gedreht und sah sie an. Sie lächelte sanft und blickte in seine glänzend blauen Augen. „ Ja, das ist es. Meine Mutter…“, sie hielt einen Moment inne: „Es war die liebste Tageszeit meiner Mutter. Wir saßen oft draußen und sahen der Sonne zu, wie sie langsam verschwand und sich das rot in ein schimmerndes Zelt aus tausenden Sternen verwandelte. Dann bürstete sie mein Haar und erzählte mir die Geschichte von der Sonne, die den Mond so sehr liebte dass sie jede Nacht für ihn starb. Jede Nacht starb sie erneut um ihn atmen zu lassen.“ Eine einzelne schimmernde Träne rann an Rhaenys Wange hinab. Das nächste, was sie spürte war, wie eine starke Hand ihre eigene, zarte Hand behutsam nahm und hielt.

 „Du musst deine Mutter sehr geliebt haben. Ich habe dir nie wirklich mein Beileid zu ihrem Tod bekundet.“ Rhaenys hielt ganz still, spürte die Wärme seiner Hand und genoss die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. „Vielleicht…sollte ich, wenn ich an sie denke, nicht an ihren Tod, sondern an all die schönen Stunden mit ihr denken. Ich habe so lange getrauert und mit niemandem über sie gesprochen. Die Geschichte über den Sonnenuntergang habe ich bisher noch niemandem erzählt, nicht einmal meinem Zwillingsbruder. Vielleicht hätte ich es euch nicht erzählen sollen…“, vor Unsicherheit biss sie sich auf die Unterlippe, doch seine ruhige Stimme schien sich beruhigend auf sie auszuwirken. „Ich denke es ist leichter wenn du darüber redest anstatt es in dir zu behalten. Wenn ich euch dieses Kompliment machen darf, du sahst so schön aus als du  geläch-“ , das letzte Wort ging in einem Keuchen unter. Seine Hand verkrampfte sich vor Schmerz in der ihren. Erschrocken löste Rhaenys ihre Hand und holte ohne zu zögern einige kühle Tücher von dem kleinen Bach auf der Lichtung. Hektisch wrang sie die Tücher aus und lief zu ihm zurück. Mit einer überaus vorsichtigen und sanften Geste bettete sie seinen Kopf auf ihrem Schoß. Tristan hatte die Augen geschlossen, sein Atem ging sehr flach und schnell. „Es wird alles gut, ihr bin bei euch mein Prinz, schsch…“ Sanft kühlte sie seine fiebrige Stirn mit den Tüchern und strich dabei beruhigend über seine Wange. Es bereitete Rhaenys selbst Schmerzen, den jungen Mann so leiden zu sehen. „Bald sind wir wieder am Hofe, man wird sich um euch kümmern und ihr werdet gesund, das verspreche ich euch…bitte bleibt bei mir, euer Herz muss weiterschlagen, denkt an euer Zuhause, eure Familie. Denkt an diejenigen, die euch lieben.“

Mit Tränen in den Augen strich sie weiter sanft über seine Wange und tupfte die Stirn mit dem kühlenden Stoff ab. Immer und immer wieder, bis in die Nacht hinein. Mehrmals legte sie ein Ohr an seine Brust, vergewisserte sich dass sein Herz noch in seiner Brust schlug, dass noch Luft in seine Lungen strömte. Sie war selbst so unendlich müde und musste sich zwingen nicht einzuschlafen. Seit mehr als zwei Tage hatte sie keinen Schlaf gefunden, doch Rhaenys kam an ihre Grenzen, das wusste sie. Nur einmal kurz die Augen schließen, nur für einen Augenblick…

Die Strahlen der aufgehenden Morgendämmerung kitzelten Rhaenys wach. Doch da war noch etwas anderes. Es fühlte sich ungewohnt komisch an, etwas war an ihrer Nase. Als sie im nächsten Moment verwundert die Augen aufschlug, drang ein Schrei der Überraschung aus ihrer Kehle. Das erklärte dieses Schnauben und das Kitzeln an ihrer Nase…Rhaenys blickten die treuen Augen eines Pferdes entgegen. Vor Freude und Überraschung sprang die junge Lady auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Es war ein Wunder, anders konnte sie es sich nicht erklären. Doch es stand neben ihr, vollkommen real und wirklich, eine junge Stute, die nun begann friedlich auf der Lichtung zu grasen. Rhaenys hätte vor Freude weinen können, so erleichtert war sie. Lachend lief sie zu der grasenden Stute und strich ihr sanft über die Nüstern. Es war ein prachtvolles Exemplar, das erkannte sie sehr schnell, das Fell glänzte und die Mähne war ordentlich gestriegelt. „Wo bist du nur abgehauen…“, flüsterte sie leise und legte lächelnd ihren Kopf an seinen Hals. Auf der anderen Seite der Lichtung war Tristan wach geworden. Kraftlos hob er für einen kurzen Augenblick den Kopf, und trotz der Schmerzen trat ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht. Die aufgehenden Sonnenstrahlen brachten Rhaenys blondes Haar dazu, wie helles Gold zu schimmern. Sie wirkte so erleichtert und glücklich, während sie mit einem zarten Lächeln auf den Lippen das Pferd streichelte…erst jetzt realisierte er wirklich, was er sah.

Als Rhaenys sah, dass Tristan wach geworden war, lief sie mit dem Halfter des Pferdes in der Hand zu ihm hin. Auch wenn die Stute sehr friedlich schien, wollte sie nicht riskieren dieses kleine Wunder wieder loszulassen. Tristan blickte in ihr Gesicht, dieses wunderschöne Gesicht, und konnte nicht anders als zu lächeln. „Sie muss irgendwo weggelaufen sein. Es ist …“, Tristan beendete ihren Satz „ein kleines Wunder, an das ich schon lange nicht mehr geglaubt hatte.“ Schnell sammelte Rhaenys die Tücher vom Bach auf, während die Stute an einem Stamm festgebunden, friedlich schnaubte. Tristan versuchte aus eigener Kraft aufzustehen, doch er war zu schwach. Rhaenys half ihm auf, während er seinen Arm um sie gelegt hatte. Die junge Frau war fast zwei Köpfe kleiner als er, sodass sich Tristan trotz des Fiebers und der starken Schmerzen nur ein wenig auf der zierlichen Rhaenys abstützte. Dank seiner ausgezeichneten Reitfähigkeiten gelang es ihm sehr schnell aufzusteigen. Rhaenys stieg, nachdem sie die Stute vom Baum losgebunden hatte, vor ihm auf. Instinktiv suchte sie sich eine ihr passende Richtung, auch wenn die Lichtung zu allen Seiten gleich aussah. Der regelmäßige Trab des Pferdes weckte alte Erinnerungen. Tristan hielt sich hinter Rhaenys an ihrer Hüfte fest, sie hoffte es bereitete ihm nicht zu große Schmerzen.

Sie ritten Tag und Nacht ohne einem einzigen Menschen zu begegnen. Es war, als wären sie in einem vollkommen ausgestorbenen Wald, nirgendwo sah man ein Licht oder Rauch. Der guten Kondition des Pferdes war es zu verdanken, dass sie nur wenige Male anhielten um einen Überblick zu erhalten. Die Wahrheit war jedoch: weder Rhaenys noch Tristan wussten, wo sie sich befanden und in welche Richtung sie reiten mussten. Anfangs unterhielten sie sich noch, doch dann wurden seine Antworten immer kürzer, bis er ganz still war.

Als es begann zu dämmern, wurde Rhaenys langsam panisch. Den Weg zur Lichtung würde sie niemals wiederfinden, doch dort gab es Wasser und eine geschützte Lage, hier wussten sie nicht einmal wo es etwas zu trinken gab. Nicht weit entfernt ihres alten Lagers hatte es einige Büsche mit Beeren gegeben, doch hier… „Rhaenys, sieh!“ schwach zeigte Tristan hinter ihr in eine Richtung rechts von ihnen. Sie konnte ihren Augen kaum glauben: es war tatsächlich ein Haus. Im leichten Trab ritten die beiden auf den Lichtschein zu. Es war ein kleines, doch sehr schönes Haus mitten im Wald gelegen. Das Pferd wieherte leicht und blieb schließlich stehen.

Doch in diesem Moment verlor Tristan hinter ihr das Bewusstsein.

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Ich hoffe euch hat dieses Kapitel genauso gefallen wie es mir Spaß gemacht hat, es zu schreiben. :)

Ihr wisst ja: Kommentare wären immer toll!

XO, FlowersInOur_Hair

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