Rhaenys warf ihrem Zwillingsbruder einen letzten Blick zu, den er aus den gleichen grün- und goldgesprenkelten Augen mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen erwiderte. Vor ihnen öffneten sich die Türen zum größten gesellschaftlichen Ereignis des Landes, dem alljährlichen Ball am Hofe des Königs von Garathon, der Heimat der Zwillinge Rhaenys und Stephan. Ihr Vater, am Hofe meist nur ,,der Graf" genannt, war ein einflussreicher und sehr wohlhabender Mann, was die Anwesenheit der Zwillinge beim Ball des Königs begründete.
Als die goldenen Flügeltüren des Saales aufschwangen, betrat Rhaenys an der Seite ihres Bruders den hell erleuchteten Raum, in dem der Ball des Jahres stattfinden würde. Von den Decken hingen edelsteinbesetzte Kronleuchter, durch die bis zum Boden reichenden Fenster sah man den hell leuchtenden, sternenklaren Nachthimmel und die riesige Halle wurde von mächtigen marmornen Säulen gestützt. Es war ein prächtiger Anblick, und zumindest einer der Zwillinge schien sich daran zu freuen. Stephan würde an diesem Abend Elia, die Tochter eines reichen Arztes wiedersehen. Und Rhaenys...nun ja, ihr hatte man keine andere Wahl gelassen als ihren Bruder zu begleiten. Dies war kein Ort für jemanden, der die meiste Zeit des Tages auf dem Rücken eines Pferdes oder mit Pfeil und Bogen in der Hand verbrachte. Doch an diesem Abend, das hatte Rhaenys ihrem Vater versprechen müssen, würde sie ihre wahre Seite nach innen kehren und stattdessen die wohlerzogene Tochter spielen, so wie ihre Tanten es ihr all die Jahre versucht hatten beizubringen. Seufzend raffte sie ihr Kleid und schloss für einen Moment die Augen, bevor sie mit dem schönsten Lächeln des Abends die Marmortreppen an der Seite ihres Bruders nach unten stieg. Man drehte sich um, musterte die schönen Zwillinge des Grafen und wandte sich dann wieder den unwichtigen Themen der Gespräche zu, über die man sich im Moment unterhielt. Man bot ihnen süßen Wein aus goldenen Pokalen an und aus einer Ecke des Saals drang zarte Musik eines Streichorchesters. Stephan nahm Rhaenys Hand und führte sie sicher durch die Menschenmenge zu einer kleinen Traube von Lords und Ladys, die sich um die einflussreichste Familie des Landes gebildet hatte. König Magnus stand neben seiner Frau, der Königin Anna und hatte sanft den Arm um sie gelegt. Als er die Zwillinge erblickte, öffnete sich die Menge sodass sie zum Königspaar durchdringen konnten. Rhaenys knickste elegant und Stephan verbeugte sich, bevor er König Magnus mit höflicher Stimme ansprach ,, Mein König, meine Königin, es ist uns eine Ehre im Namen unseres Vaters zu diesem Ball geladen worden zu sein. Er übermittelt die besten Grüße und möchte bald wieder an den Hof kommen." Stephan hatte ein Händchen für die richtigen Worte, er drückte sich stets vor den richtigen Personen mit den richtigen Formulierungen aus. Königin Anna strich Rhaenys mit einem traurigen Lächeln eine Locke hinter das Ohr. ,, Ihr seht eurer Mutter so unglaublich ähnlich, vor allem du Rhaenys. Wenn ich in dein Gesicht sehe, ist es als wäre eure Mutter... doch entschuldigt bitte, ich wollte euch nicht an diesem Abend an sie erinnern. Wie geht es eurem Vater?" Nach einem Seitenblick auf seine Schwester begann Stephan eine kurze Konversation mit der Königin, bevor sich das Paar entschuldigte um weitere Gäste zu begrüßen. ,,...als wäre sie nicht tot. Das ist es, was Anna hatte sagen wollen." Rhaenys spürte, wie sich die Arme ihres Bruders um sie schlossen und er ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Nach einigen Augenblicken hatte sich das Mädchen wieder gefangen und sah zu ihrem Bruder. ,,Du solltest Elia suchen gehen, sie wartet sicher schon auf dich." Als Rhaenys ihren Namen sagen, huschte ein Lächeln über die Lippen ihres Bruders. ,,Wir werden nicht lange bleiben Rhaenys, ich verspreche es dir." Damit wandte er sich ab und verschwand in der Menge, auf der Suche nach dem Mädchen von der er schon seit Wochen stetig schwärmte.
Rhaenys wählte den Weg auf den Balkon, sie war alleine und konnte den Gedanken nachhängen, während sich über ihr die endlose Weite des Sternenhimmels ausbreitete. Eine Frage ging ihr schon seit Tagen durch den Kopf: ,,Was, wenn Stephan sich alsbald mit Elia vermählen würde? Wen hätte ich dann noch? Amelie ist eine gute Freundin, doch fast drei Tagesritte von unserem Anwesen entfernt und mit anderen Dingen beschäftigt...sie würde in wenigen Tagen heiraten. Heiraten.Auch in bin fast in einem heiratsfähigen Alter, doch wer kann meine Mauer durchbrechen? Zu mir hindurchdringen und die ehemals so lebenslustige Rhaenys befreien? Nichts bereitet mir so sehr Angst wie das Alleinsein..." Während sie ihren Gedanken hinterherhing war Rhaenys nicht aufgefallen, das sie nicht mehr allein auf dem Balkon war. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück und wäre fast über eine Bank gefallen, hätte der ihr Gegenüberstehende sie nicht in letzter Sekunde halten und wieder sicher auf die Beine setzen können. Ihr Gegenüber betrachtete ihr hübsches Gesicht mit freundlicher Belustigung in den Augen. ,,Ihr müsst nicht gleich auf den Boden fallen wenn ich euch begrüßen möchte Lady Rhaenys" Seine Stimme war tiefer geworden, der Schatten eines Bartes gaben den hohen Wangenknochen mehr Ausdruck. Er musste sie um knapp zwei Köpfe überragen, sodass Rhaenys nach oben schauen musste nachdem sie mit roten Wangen vor dem Kronprinzen geknickst hatte. ,,Prinz Tristan, entschuldigt bitte, ich hing meinen Gedanken nach..." Zwar hatte sie den Kopf gesenkt, doch die Spuren der Tränen musste er dennoch gesehen haben. ,,Man sollte auf einem Ball nicht weinen, Lady Rhaenys. Ich habe euch aus einem bestimmten Grund aufgesucht, muss ich zugeben. Es ist die alljährliche Aufgabe des Prinzen, eine Partnerin ..." Doch sie unterbrach ihn bereits. ,,Es ehrt mich, doch ich kann an diesem Abend nicht an das Tanzen denken. Bitte entschuldigt mich..." Mit diesen Worten ließ sie einen überaus überraschten Prinzen auf dem Balkon stehen und eilte nach drinnen durch die Menge, um nach ihrem Bruder zu suchen. Als sie ihn entdeckte, stellte er sich mit seiner Tanzpartnerin Elia für den Eröffnungstanz auf. Mit gesenktem Kopf lief sie weiter durch die Menge und zur Empore, von wo aus sie zwar nicht gesehen werden konnte, dennoch einen Überblick über den ganzen Saal hatte. Erst jetzt verarbeitete sie das, was sie soeben Tristan gesagt hatte. ,,Ich habe dem Prinzen einen Tanz verwehrt...dem Prinzen einen Tanz verwehrt! Wenn Vater davon erfährt...", nervös biss sie sich auf die Lippe, während die Musik für den Eröffnungstanz gespielt wurde. Tristan hatte eine ihr unbekannte Schönheit mit seidigem, schwarz glänzendem Haar gewählt. Anmutig schwebten die Paare über das Parkett, jede schöne als die andere.
Hätte in diesem prächtigen Augenblick jemand ahnen können, wie kurz diese Idylle weilen könnte? Hätte man nicht früher den Rauch deuten, die Warnschüsse hören können? Die klassische Musik füllte den ganzen Raum und ließ keine anderen Geräusche hinein. Mit einem lauten Klirren ging eines der Fenster unter Millionen Scherben zu Bruch, Sekunden später ein zweites. Unruhe bis hin zur Panik machte sich im Saal breit, man drängte zu den Flügeltüren des Eingangs. Nur eine Gruppe von Leuten im Land zerschoss stets zwei Fenster, bevor sie zum Angriff überging. ,,Die Geächteten...", Rhaenys wagte ihren Namen nicht laut auszusprechen. Vor Angst wie gelähmt starrte sie noch immer auf die Fenster. Bilder tauchten in ihrem Kopf auf, Blut, so viel Blut rings um den Körper ihrer geliebten Mutter....ihre Hände zitterten leicht, die Bilder verschwanden nur langsam während sie sich losriss und nach unten lief. Wo war Stephan? Er würde mit ihr verschwinden, sie würde nicht ohne ihn gehen.
,,Rhaenys!" Sie drehte sich um als sie ihren Namen hörte. Jemand nahm ihre Hand und lief mit ihr durch die aufgebrachte Menge bis zu einem Gang, an dessen Ende eine breite Holztür. Dies war der Weg zu den Küchen, vielleicht ein schneller Ausweg aus dem Schloss. Doch Rhaenys dachte nur an Stephan. Er musste es nach draußen schaffen, bevor sie kamen. Tristan hielt noch immer ihre Hand, zielstrebig öffnete er die Tür und führte sie durch ein langes Tunnelsystem bis zu den Küchen.
Doch sie waren dort nicht allein.
_______________________________________________________________
Ich hoffe euch hat der Anfang der Geschichte gefallen, wenn ich es schaffe kommt morgen bereits das nächste Kapital.Was wird Rhaenys und Tristan in den Gängen erwarten?
FlowerInOur_Hair
DU LIEST GERADE
I'll hold you
عاطفيةRhaenys wollte nicht zu diesem Ball, sie war niemand den man in eine Schublade mit den Mädchen ihres Alters stecken konnte. Seit dem Tod ihrer Mutter ist sie voller Angst verlassen zu werden, kann nur sich selbst und ihrem Zwillingsbruder Stephan ve...