10. Der Ball

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Es vergingen die Tage, ohne dass ich die Gelegenheit bekam das Haus zu verlassen. Erst als ich wieder zum Arbeiten ins Krankenhaus ging, konnte ich raus.

Ich hatte den Brief mitgenommen und trug ihn im Korsett, um zu vermeiden, dass er mir versehentlich aus der Tasche fiel und ihn jemand entdeckte.

Das wäre nämlich fatal gewesen. Dieser Brief war wie eine Bombe. Wenn jemand erfuhr, dass ich meine eigene Meinung auf Papier gebracht hatte und vor hatte ihn sogar zu veröffentlichen... tja, dann würde die Bombe hochgehen und ich wäre die Einzige, die dabei draufgehen würde.

Aber diese Angst sollte mich nicht aufhalten.

Also erfüllte ich den ersten Teil meines Plans, indem ich mehr Frauen davon überzeugte, dass wir mehr verdient hatten. Ich erzählte meine Meinung fast beiläufig - sowohl den anderen Krankenschwestern, als auch meinen Patientinnen.

Bedauerlicherweise stimmten mir nicht mal die Hälfte zu.

Die jüngste Krankenschwester war Juli und sie war mit Abstand am naivsten und leicht zu beeinflussen, aufgrund ihres jungen Alters. Ich stellte schnell fest, wie einfach sie zu überzeugen war. Selbst wenn sie zunächst eine Meinung hatte, änderte sie sie sofort wieder, wenn jemand anders dachte. Daher konnte ich ihr die Idee von der Emanzipation in Ruhe einreden, bis sie derselben Meinung war.

An einem vollen Tag im Krankenhaus, ergriff ich meine Chance noch mehr Leute zu überzeugen. Ich nahm Juli mit mir und ging in die große Halle, wo die Leute - bei denen es nichts akutes gab - auf Stühlen warteten, bis sie an der Reihe waren von den Ärzten behandelt zu werden.

Ich sah in die Runde und bemerkte einen Mann mit einem ausgekugeltem Arm. Er hielt ihn sich schmerzverzerrt fest und schien kaum noch länger warten zu können.

Normalerweise rief man einen Arzt für solche Fälle. Und mir war klar, dass sich hier niemand von einer Frau behandeln lassen wollte. Man hätte uns nicht ernst genommen. Man hätte uns das nicht zugetraut.

Aber das wollte ich ändern. Es gab keinen Grund, warum das nicht auch eine Frau machen könnte. Wir waren genauso in der Lage die medizinische Lehre zu studieren, durchzuführen und Doktor zu werden.

„Wir brauchen keinen Mann um das zu erledigen.", sagte ich entschlossen und bat den Mann aufzustehen. Ich nahm seinen Stuhl und platzierte ihn in die Mitte der Halle, so dass uns so viele wie möglich sehen konnte.

Ich spürte die neugierigen Blicke aller auf uns.

„Setzen Sie sich.", bat ich und zeigte auf den Stuhl.

Er hatte schlimme Schmerzen, aber schaffte es dennoch mich mit großen Augen völlig verängstigt anzusehen. „Sind Sie sicher, Fräulein? Wollen Sie nicht lieber einen Arzt rufen?"

Ich drückte den Patienten wortlos seitlich auf den Stuhl. Ich gab ihm einen Blick, den ich von Mr Kurt nur allzu gut kannte und der keine Widerworte erlaubte. Der Patient hielt den Mund.

Die anderen Schwestern schienen nicht begeistert von meinem Vorhaben, aber ich ignorierte die Blicke und das Gemurmel.

„Komm, Juli", sagte ich über meine Schulter, „Und lern etwas dazu."

Juli eilte an meine Seite, aber Großschwester Helene kam dazwischen. „Wag es ja nicht! Du weißt doch gar nicht, wie man den Arm wieder einrenkt. Außerdem würde deine Kraft nicht reichen. Wir holen besser Doktor Thomas oder Richard."

Sie wusste nicht, dass sie mich mit ihrer lächerlichen Aussage nur noch mehr anspornte. Ich merkte, wie die Augen der anderen Patienten und Krankenschwestern auf uns lagen.

Ella - Die Stille nach dem SturmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt