Teil 2

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Stunden später liege ich auf dem Schlafsofa, das mir als Bett dient, und heule wie ein Schlosshund. Ich kann einfach nicht aufhören. Es schüttelt mich richtig. Bisher haben sie mich im Ruhe gelassen, sogar Günther, der schleimige Stellvertreter. Obwohl: Jetzt ist er wohl nicht mehr nur der Stellvertreter. Jetzt, wo Bodo tot ist. Tot. Das Wort hat ein merkwürdiges Echo in meinem Kopf. Tot. Bodo ist tot. Er wird meine Ausbildung nicht zu Ende führen. Er wird mir nie mehr abends heiße Milch mit Honig auf mein Zimmer bringen. Und ich werde nie wieder seine Hände halten, so wie ich es heute im Krankenhaus zum letzten Mal getan habe.

Bodo... Als ich ihn vor knapp anderthalb Jahren das erste Mal sah, habe ich das Wort Charisma erst richtig verstanden. Fabian hatte mich an dem Tag nach der Schule mit in die Stadt genommen und zur Agentur geschleift. Er wollte mir wohl imponieren, dass er mit so komplizierten Geräten umgehen durfte. Bodo öffnete auf sein Klingeln hin die Tür und begrüßte mich, als ob er schon länger auf mich gewartet hätte. Er brachte es fertig, dass ich mich sofort für die Arbeit der Agentur begeisterte und nach einer knappen Dreiviertelstunde hatte ich eine Tasse Tee in der Hand und schon den zweiten Test bestanden. Fabian hatte ich in der Zwischenzeit offen gestanden vollkommen vergessen. Er wollte mich ursprünglich Günther vorstellen, der ihn für die Agentur geworben und ihm die Ausbildung versprochen hatte, aber ich war so in das Gespräch mit Bodo vertieft gewesen, dass er es irgendwann aufgegeben hatte. 

Später erfuhr ich, dass Fabian von dem Tage an neidisch auf mich war, weil ich so leicht in die Ausbildung eingestiegen war, während es ihm so vorkam, als ob Günther ihm selber ein Hindernis nach dem anderen in den Weg stellte. Ach ja, Fabian. Er versuchte immer wieder, mich zu beeindrucken. Das hatte in der zweiten Klasse begonnen, als wir an den selben Tisch gesetzt wurden und eigentlich hat es noch nicht aufgehört. Und eigentlich hat es mich auch nie interessiert. Wir konnten nur immer gut zusammen arbeiten - wenn in der Schule Partnerarbeit angesagt war, dann waren wir zwei als Team unschlagbar. Aber mehr eben auch nicht. 

Mit Bodo war das anders. Er versuchte gar nicht erst mich von irgendetwas zu überzeugen. Er war aber selbst so überzeugt von dem, was er sagte oder tat, dass er jeden sofort automatisch damit ansteckte. Oder vielleicht sagte und tat er einfach nur genau die Dinge, von denen er absolut überzeugt war - und ließ die anderen einfach bleiben. Jedenfalls war Bodo durch und durch wahrhaftig. Es tat mir gut mit ihm zu reden und von ihm zu lernen. Bei ihm fühlte ich mich sofort wie zu Hause. Anders als bei meinen "Eltern".

Der Haushalt, in dem ich bis dahin gelebt hatte, war alles andere als heimelig gewesen. Meine Mutter hatte schon lange ein Alkoholproblem gehabt und war eigentlich generell entweder betrunken gewesen oder verkatert und gnadenlos überfordert. Nie hatte sie eingekauft oder gewaschen, wenn ich nach Hause kam und in unserer Wohnung war es so unordentlich, dass ich seit dem Kindergarten nicht mehr versucht hatte, eine Freundin zu mir einzuladen. Für meine Wäsche und für das Essen musste ich schon lange selber sorgen, wobei immer das Einkaufen das größte Problem war - schließlich brauchte ich dafür Geld. So musste ich ganz schön findig werden, um mir welches zu verdienen. Und außerdem war ich gut im Schnorren. Kein halbwegs essbares Pausenbrot meiner Mitschüler war vor mir sicher. Manche gingen sogar so weit, dass sie sich regelmäßig eins mehr mitgeben ließen, weil sie meinem Bitten nicht widerstehen konnten und trotzdem satt werden wollten. Von Müttern geschmierte Pausenbrote - was für ein Luxus! Und die von Fabian schmierte sogar ein Hausmädchen! Seine Mutter fand aus ähnlichen Gründen wie meine keinen Gefallen an der Hausarbeit, seine Eltern waren aber steinreich und so bezahlten sie einfach jemanden, der sie an ihrer Stelle tat. Trotzdem schämte sich Fabian, sobald sein Zuhause zur Sprache kam, und meinte, wir seien Leidensgenossen. Tatsächlich erleichterte es die Situation etwas, wenigstens mit einem Menschen unzensiert über seine betrunkene Mutter reden zu können und sogar davon ausgehen zu dürfen, dass ich verstanden wurde. 

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