Das Frühstück am nächsten Morgen ist viel interessanter, als ich gefürchtet habe. Karsten ist über Nacht geblieben und verbreitet gute Laune am Frühstückstisch. Er unterhält sich angeregt, mit Heide, Bernd, Clemens und mir, während Günther in seiner Ecke vor sich hinmuffelt. Susi, die wie immer auf seiner Seite ist, schmollt ebenfalls. Fabian, der Arme, hat tiefe Ringe unter den Augen. Er sieht so aus, als habe er in der vergangenen Nacht keine einzige Minute geschlafen. Abwesend rührt er in seinem Müsli, vergisst sogar ab und zu den Mund für den Löffel zu öffnen. Außer mir scheint das aber niemand zu bemerkten.
"Cara, ich habe schon mit Günther über deinen Urlaub an der Küste gesprochen. Er und Susi sind einverstanden, wollen aber mit der Organisation der Reise nichts zu tun haben." Karsten hat ja ganze Arbeit geleistet. Dankbar lächele ich ihn an. Dann fällt mir allerdings ein, dass ich mich ja dann ganz allein um meine Anreise kümmern muss. Ich weiß nicht so recht wie und auch nicht, wie ich das bezahlen soll. Aber grade als ich den Mund öffne, um Karsten um einen guten Tipp zu bitten, sagt er: "Die Fahrt machst du per Taxi, das ist doch quasi eine Dienstfahrt; dafür kommt die Agentur auf." Günther hebt die Hände und guckt Karsten grimmig an, so als wolle er widersprechen, doch nach einigen Augenblicken lässt er sie tonlos wieder sinken. Karsten hat es gar nicht bemerkt, er ist immer noch auf mich konzentriert. "Zögere nicht mehr zu lange, Cara", meint er und zwinkert mir verschwörerisch zu. "Barbara freut sich schon auf dich. Am besten du startest gleich heute oder morgen." Bei diesen Worten fährt Fabians Kopf hoch und er fixiert mich mit alarmiertem Blick. "Du fährst weg, Cara?", schreit er fast und in seiner Stimme schwingt eine mittelschwere Panik. "Aber...", setzt er an, beendet den Satz jedoch nicht. Durch die Lautstärke ist Heide auf ihn aufmerksam geworden und mustert ihn eine Weile.
Dann löst sich unsere Frühstücksrunde auf: Karsten verschwindet mit Günther wieder im Büro, Susi hat Küchendienst und verbreitet schlechte Laune, vor der wir anderen schnell flüchten. Bernd und Clemens machen sich auf den Weg in den Keller zu den Geräten. Fabian will mich mit sich in sein Zimmer ziehen, aber Heide gibt mir mit einem Zeichen zu verstehen, dass sie mit mir reden möchte. Also entschuldige ich mich mit unbehaglichem Gefühl bei Fabian und vertröste ihn auf später. "Geh schon mal hoch, Fabian. Ich komme, ich hab es doch versprochen." Ich lächele ihm aufmunternd zu, bevor ich zu Heide ins Wohnzimmer gehe.
"Was ist mit Fabian los? Er sieht schlimm aus", kommt sie direkt auf den Punkt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt etwas sagen sollte, schließlich weiß ich es selbst nicht genau. "Ja, es geht ihm grad nicht so gut. Aber du fragst ihn wohl besser selbst", gebe ich schließlich zu - immerhin ist es Heide, die mich fragt. Die einzige, die für mich da war, als ich um Bodo getrauert habe. Bei meiner Antwort seufzt sie, schaut mich nachdenklich an und fragt dann: "Was meinst du, vertraut er Günther?" "Ähm..." Was für eine Frage ist das denn? Doch bevor ich etwas Sinnvolles antworten kann, spricht sie schon weiter: "Na, Hauptsache er vertraut dir! Bitte halte den Kontakt zu ihm, wenn du bei Barbara und Sven bist." Ich kann nur nicken, aber eigentlich weiß ich nicht so recht, worüber Heide grade spricht und ob sie überhaupt das meint, was ich verstanden habe. Bevor ich aber nachfragen kann, ist sie schon zur Tür hinaus gestürmt.
Ich beschließe, Fabian nicht noch länger warten zu lassen und zu ihm nach oben zu gehen. In seinem Zimmer finde ich ihn über eine neue Zeichnung gebeugt am Schreibtisch vor. Ach ja, dazu hat er mir ja gestern erst gesagt, dass er hier einem Zwang folgt... Schweigend beobachte ich ihn. Der Bleistift huscht über das Blatt und hinterlässt spannende Spuren. Jede Bewegung führt zu einem sicheren Strich. Fabians Gesicht ist ausdruckslos, was mich ein wenig wundert. Ich hätte gedacht, dass er beim Zeichnen angestrengt gucken würde, oder doch zumindest konzentriert. Aber davon ist nichts in seinem Gesicht, nur totale Entspannung. Hätte er die Augen nicht offen, könnte man meinen, er schliefe. Naja, jedenfalls scheint ihn das zwanghafte Zeichnen nicht zu quälen.
Jetzt wende ich meine Neugier dem Bild zu, das unter Fabians Händen entsteht. Was zeichnet er denn heute? Mal sehen: Bis jetzt sieht man zwei Menschen auf der Zeichnung. Das eine, mit Seitenscheitel, Ziegenbart und abfällig schiefgezogenem Mund, ist wieder Günther. Diesmal hat er eine Hand zur Faust geballt. Hält er etwas in der Hand oder droht er? Die andere Person bin ich, wie ich gerade aus dem Zimmer gehe. Mein Haar, mein Pulli und meine Tasche wehen hinter mit her, als habe ich heftigen Gegenwind, der mich wieder zu Günther zurückpusten will. Nun zeichnet Fabian eine sonnenbeschienene Landschaft, auf die ich zusteuere. Es sieht jetzt aus, als habe ich ein schönes und lohnenswertes Ziel. Als Fabian damit fertig ist, wendet er sich meiner Hand zu und zeichnet etwas dort hinein. Was er mir da in die Hand gibt, sieht aus wie ein Telefon. Kaum hat er das beendet, malt er vor Günther weiter. Jetzt ist dessen Hand leicht geöffnet und der Raum um ihn herum wird dunkler und dunkler, so viele Bleistiftspuren hinterlässt Fabians Stift dort. Zum Schluss ist Günther allein in einem fast schwarzen engen Raum, der Gegenwind, der vorher meine Kleidung und mein Haar gebauscht hat, scheint sich gelegt zu haben und meine Hand tippt etwas in das Telefon - jedenfalls kann ich auf dem Display kleine Zeichen erkennen.
Aufseufzend legt Fabian den Bleistift weg. "Oh, da bist du ja schon", sagt er, als er aufblickt. "Hast du schon lange gewartet? Weshalb sagst du denn nichts?" Aber ich schüttele nur leicht den Kopf. Nach kurzem Nachdenken kann ich ihm antworten. "Ich wollte unbedingt sehen, wie du das machst. Und ich denke, es ist wichtig, das du deine Bilder ganz und gar fertigzeichnest." "Warum das denn?", will Fabian wissen. Ich muss wieder erst nachdenken und lege den Kopf schief. "Das ist jetzt nur eine Theorie", beginne ich langsam, "aber wenn deine Zeichenattacken wirklich Übermittlungen sind, dann muss die Verbindung doch bis zur Vollendung des Transfers aufrecht erhalten bleiben. Bei einer Übermittlung darf man nicht unterbrechen, das hat mir Bodo immer wieder gesagt." Oh ja, es ist mir fast zu den Ohren wieder rausgekommen, so oft musste ich diesem Satz hören! "Stimmt", gibt Fabian zu. "Aber wie kommst du darauf, dass es ein Transfer ist?", fragt er dann mit zweifelndem Blick.
Entschlossen ziehe ich Fabian zu seinem Bett, drücke ihn darauf nieder und setze mich neben ihn. Dann greife ich mir seine Hand, damit er mir nicht davonlaufen kann, starre ihm tief in die Augen und erkläre: "Das hast du mir gestern Abend selbst klargemacht." Und dann setze ich ihm lang und breit auseinander, was mir in der Nacht in meinem Bett kurz vor dem Einschlafen klargeworden ist. "Du bist seit anderthalb Jahren in der Agentur. Und auch wenn Günther dich nicht zügig ausbildet, hast du beinahe jeden Tag mit Übermittlungen zu tun: Du hörst, wie Bernd und Clemens senden und empfangen, oder Susi mit Günther, wie Heide die Protokolle mit den anderen durchspricht, bevor sie sie abschreibt... auch wenn du selber das noch nicht regelmäßig tust, bist du doch ständig davon umgeben! Irgendwie muss es einen Weg in dein Unterbewusstsein gefunden haben."
Fabian starrt mich mit großen Augen an. "Meinst du wirklich...?" Seine Stimme ist leise und brüchig. "Na, aber klar doch!" Ich bin wirklich überzeugt. "Es hat doch alle Merkmale - hast du mir selber gestern aufgezählt: Es fühlt sich bekannt an, obwohl es neu für dich ist, irgendetwas drängt dich dazu und während der Übermittlung hast du keine Kontrolle über den Inhalt." Während ich rede, werden Fabians Augen noch größer. Ich kann sein Erstaunen quasi mit Händen greifen. "Du glaubst ernsthaft, dass ich... arbeite? ...endlich richtig arbeite?" Wie es scheint, kann er es immer noch nicht fassen. Das wird noch ein langes Gespräch...!
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Transfer
ParanormalEine Agentur, die geheime Daten übermittelt. Ein Mann, der auf mysteriöse Weise ums Leben kommt. Ein junges Mädchen, dass diesen Tod so nicht hinnehmen will. Ein starker Gegner, der ihre Ermittlungen mit allen Kräften behindern will. Ein Taxifahrer...